"Das Autorenkino hat sich in den Fernen Osten verlagert"

Gabriele Flossmann im Gespräch mit Katrin Heise |
Das jetzt beginnende Filmfestival in Cannes war auch immer ein Aushängeschild des Autorenkinos. Dieses ist nicht tot, wie oft behauptet, sondern hat sich lediglich nach Fernost verlagert, findet die Filmjournalistin Gabriele Flossmann. Auch die Absatzmärkte seien dorthin gewandert, was man an der auffälligen Präsenz in Cannes von Bollywood und Russland als Filmmarkt merken könne.
Katrin Heise: Wer möchte nicht im herrlichen Monat Mai über den Boulevard de la Croisette in Cannes promenieren? Jeder, der in der Filmwelt Rang und Namen hat, tat dies bisher mit Lust. In der schönen Atmosphäre der französischen Mittelmeerküste entwickelte sich seit 1946 das bedeutende Filmfestival, das man mit Namen wie Jean-Luc Godard und François Truffaut verbindet, mit Filmen, die Filmgeschichte schrieben. Heute Abend wird zum ersten Mal mit dem Film-up ein Animationsfilm das Festival eröffnen. Ob das ein Zeichen für Wagemut und Frische im traditionsreichen Festivalbetrieb ist, dazu hat Gabriele Flossmann, Filmjournalistin des ORF, sicher eine Meinung. Seit 30 Jahren beobachtet sie das Treiben in Cannes, und ich begrüße sie jetzt direkt aus Cannes, nämlich aus dem Festival-Palais. Frau Flossmann, schönen guten Tag!

Gabriele Flossmann: Schönen guten Tag aus Cannes!

Heise: Ein Animationsfilm ins Rampenlicht der Eröffnung gerückt, heißt das, Cannes anerkennt die Wichtigkeit dieses Genres?

Flossmann: Ich glaube fast eher, dass das ein Akt der Verzweiflung ist, denn im Vorjahr war wenig aus Amerika, wenig aus Hollywood da, was von der Presse eigentlich sehr negativ bewertet wurde, weil nicht nur die Filmkunst zählt hier, sondern auch die Stars. Und in diesem Jahr war, glaube ich, ein Kompromiss, dass man halt einfach zwar nicht mit einem vollen Hollywoodkino beginnt, sondern mit Animationsfilmen. Dann kann man sich zukunftsweisend geben und hat aber trotzdem die Öffentlichkeit, die Weltöffentlichkeit für einen amerikanischen Major-Film.

Heise: Bevor wir jetzt vielleicht drauf kommen, wie zukunftsweisend das Festival im Moment noch ist, würde mich mal interessieren, worauf basiert eigentlich die große Bedeutung, die Cannes bisher beigemessen wurde?

Flossmann: Es war das eigentlich älteste durchgehende Festival. Venedig ist ja vorher gegründet worden, noch vor Cannes, war aber immer wieder Krisen ausgesetzt, wurde immer wieder abgesagt und unterbrochen, noch dazu von Mussolini gegründet, was ja auch nicht gerade eine Reputation für eine freie Kunstform ist. Und Cannes war das erste durchgehende europäische Festival, das eigentlich kulturelle und künstlerische Standards für den europäischen Film gesetzt hat. Und das macht die Bedeutung aus.

Heise: An welche Standards denken Sie?

Flossmann: Na, ich denke eben an die Namen, die Sie ja schon in der Einleitung gesagt haben, wie Truffaut, Godard und diese ganzen französischen und auch italienischen vielmehr, auch Fellini hat ja eigentlich hier in Cannes begonnen und Pasolini. Es war das erste Festival, das eigentlich gezeigt hat, dass Film nach dem Krieg nicht nur zur Volksbelustigung, Beruhigung in Kriegsjahren und in Nachkriegsjahren dient, sondern dass es auch wirklich um Kunst sich handelt.

Heise: In diesem Jahr sind mit Ken Loach, Pedro Almodóvar, mit Ang Lee und Jane Campion namhafte angesagte Regisseure dabei, aber wo ist eigentlich die Jugend?

Flossmann: Die Jugend war im Vorjahr dran. Voriges Jahr hat man eben diese Ikonen des europäischen und des internationalen Films nicht da gehabt, was wie gesagt von der Presse eher negativ aufgenommen wurde, weil man brauchte auch Namen. Schließlich ist es bei Medien so, jeder Redakteur, der hier sitzt, hat seiner Hauptanstalt Dinge zu verkaufen, und man kann nicht mit neuen Namen kommen und sagen, der ist wichtig und bedeutend, sondern man muss sagen, wir haben die Stars A, B, C und die wichtigen Regisseure und daneben gibt es ein bis zwei neue Talente. Aber nur aus neuen Talenten, wie es im Vorjahr war das Programm eigentlich zum Großteil, das funktioniert irgendwie auch nicht.

Heise: Das Wochenmagazin "Der Spiegel" sieht die Bedeutung des Autorenkinos, des Autorenfilms, für das Cannes ja steht, komplett verloren, es sei ein Nischenprogramm, dieses Autorenkino, keine Leitkultur mehr. Und das Magazin fragt dann in seiner aktuellen Ausgabe in, ja, sehr bekannt ätzender "Spiegel"-Manier: Wer braucht künftig eigentlich noch die großen Filmfestspiele? Die Antwort wird auch gleich gegeben: Vermutlich keiner, sagt der "Spiegel". Sehen Sie das eigentlich ähnlich, Frau Flossmann?

Flossmann: Das sehe ich nicht so, weil in diesem Jahr sind doch auch Autorenfilme da, sie kommen aus Korea, aus Asien, aus China. Es gibt eben irgendwie neue Märkte, die erschlossen werden müssen. Auch um Krisen, möglichen Krisen des amerikanischen Mainstream-Kinos zu entgehen, muss man einfach auch die neuen Absatzmärkte irgendwie checken, das scheint heuer der Fall zu sein. Und es hat sich eben das Autorenkino ein bisschen mehr in den Osten, in den Fernen Osten verlagert. Auffallend ist auch hier, wenn man über die Croisette wandert, dass in den teuren Boutiquen nicht mehr amerikanische Plakate und Willkommenssprüche prangen, sondern in Kyrillisch, auf Russisch, das heißt, jeder hier scheint schon darauf eingestellt zu sein, dass das Geld, das große Geld offenbar woanders liegt als in Europa und Amerika.

Heise: Das heißt, Sie würden sagen, von Cannes gehen tatsächlich doch noch ganz schön viel Impulse aus, was die Filmwelt betrifft?

Flossmann: Ich glaube schon, weil es hat zwar Berlin den chinesischen Film ursprünglich entdeckt, die Berliner Filmfestspiele, weil man denkt dann an Zhang Yimou und so weiter, und Chen Kaige, die haben eigentlich in Berlin begonnen, es hat aber sehr bald schon Cannes nachgezogen und bringt jetzt die ganzen großen Namen des chinesischen Kinos. Und die Sache scheint aufzugehen.

Heise: Frau Flossmann, einziger deutschsprachiger Wettbewerber um die Goldene Palme ist "Das weiße Band - eine deutsche Kindergeschichte" heißt der Film, von Ihrem Landsmann, dem Österreicher Michael Haneke. Ist das alte Phänomen, dass die Franzosen wenig vom deutschen Kino halten, da wieder durchgeschlagen, oder war es einfach ein schlechtes deutsches Filmjahr?

Flossmann: Ich glaube, es ist eine Mischung aus beidem. Ich meine, sehr deutscher-Film-freundlich war Cannes nie, wenn man von Wim Wenders absieht, der ja hier ein Ticket zu haben scheint, das jedes Jahr gilt, weil er einen neuen Film eben hat. Sonst trifft das auch auf Haneke zu. An anderen deutschsprachigen Filmen geht Cannes traditionellerweise vorbei, da sind die Chancen in Venedig größer.

Heise: Sie haben die USA schon angesprochen. Hollywood und Cannes, die sind sich ja auch nicht immer grün, wurde sogar oft als Hassliebe bezeichnet. Würden Sie auch so weit gehen?

Flossmann: Das ist eigentlich, seit der neue Festivalpräsident Thierry Frémaux ist, also das Sagen hier hat, ist das so. Früher unter Gilles Jacob war eigentlich das amerikanische Kino und das Hollywoodkino sehr willkommen, weil man natürlich, die Stadt Cannes finanziert einen Großteil des Festivals, hat Einnahmen in Millionenhöhe, die es reinvestiert und dazu braucht man eben die Amerikaner, die am ehesten mit großen Festen - diesmal ist es "Up", also der Eröffnungsfilm, das einzige große, teure Fest, das hier geschmissen wird. Und wie lange da Cannes als Stadt, als Geld gebende Stadt noch zuschaut, wenn die Feste immer kleiner werden, immer billiger und immer weniger Geld in der Stadt bleibt, das bleibt abzuwarten.

Heise: Sie haben jetzt schon einen Blick quasi vor die Kinosäle in die Tanzsäle geworfen oder in die Clubs. Der Glamour, der spielt natürlich eine riesige Rolle bei solchen Festivals. Hat sich das also in den letzten Jahren nach und nach an der Côte d'Azur wieder zurückentwickelt oder ist das jetzt dieses Jahr eben das Krisenjahr, was da zu spüren ist?

Flossmann: Es ist schon das Krisenjahr sehr spürbar. Es haben große Fach- und Branchenblätter, die früher immer groß gefeiert haben und Stars eingeladen haben, haben ihre Feste abgesagt, aus Spargründen. Es haben auch einige Hollywoodfirmen ihre Feste abgesagt. Also es ist schon ein Krisenjahr. Auf der anderen Seite kommt halt auch dazu, dass die Stars diesen riesigen Rummel, der immer mehr werdenden Medien schon langsam entfliehen wollen, das heißt, sie gehen nach Cap d'Antibes, statt hier in Cannes zu bleiben. Und dadurch ist auch für die Schaulustigen an und für sich weniger geboten, als es in den früheren Jahren war. Also wie ich gekommen bin, hat man wirklich die Stars noch auf der Straße erleben können in den öffentlichen Restaurants. Diese Zeit ist vorbei.

Heise: Sind Sie traurig darüber?

Flossmann: Schon irgendwie, weil früher konnte man auch noch direkt hingehen und ansprechen jemanden und Stars bekommen und sagen, ich komme vom österreichischen Fernsehen, würde gern ein Interview machen, und man hatte meistens Glück. Jetzt sind große PR-Agenturen dazwischen, die dann schon von vornherein die Märkte analysieren. Das heißt, Österreich ist gleich kleiner Markt, schon sind die Chancen kleiner. Also wenn man da nicht ein paar gute Kontakte aufgebaut hat, dann hätte man hier überhaupt keine Chance mehr.

Heise: Sie haben den Markt angesprochen. Von größter Bedeutung ist der Marché du Film in Cannes, das ist die große Filmmesse. Da wird die Finanzkrise ja auch durchschlagen, auf die Filmbranche sowieso, auf die DVD-Verkäufe, auf die Fernseherlöse, weniger Kinobesucher. Kann so eine Messe da auch so eine Art Erlösung sein oder liegt man da eigentlich dann in Agonie?

Flossmann: Na, es ist zum Beispiel so, dass der russische Film mit einem riesigen Zelt hier an der Côte d'Azur mit 300 Quadratmetern sich als Filmland und auch als Filmkäuferland präsentiert. Es ist der asiatische Raum ganz groß da, es ist Bollywood groß vertreten, also der indische Film. Das heißt, ganz offensichtlich wird man sich nach neuen Märkten umsehen müssen. Also der Absatzmarkt würde eher größer als kleiner, wenn man die internationale Vernetzung und die globale Welt so sieht. Und ich glaube, dass das eine Krise als Chance ist, neue Ufer irgendwie zu beschreiten.

Heise: Seit 30 Jahren sind Sie jedes Jahr in Cannes bei den Filmfestspielen. Auf was freuen Sie sich dieses Jahr besonders?

Flossmann: Ich freue mich auf den Quentin Tarantino, das scheint ein sehr ungewöhnlicher Film zu sein über ein Attentat gegen Hitler, das gelungen ist und das auf eine total skurrile Weise gelöst wurde, wo Brad Pitt auch mitspielt. Soll gut sein, was ich höre. Dann noch der neue Film von Jane Campion soll sehr gut sein. Ich freue mich, wenn die deutsch-österreichische Produktion "Das weiße Band" gut ankommt. Ich glaube, das muss uns beide freuen, wenn ein deutschsprachiger Film hier Aufsehen erregt. Ja, das wären so einmal die ersten Höhepunkte, auf die ich mich wirklich freue.