Das Angebot wächst, die Aufmerksamkeit nicht

Stefan Goldmann im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 06.05.2011
Für jeden verfügbare Software zum Produzieren von Musik und kostenloser Vertrieb über das Internet haben zu einem Überangebot an Musik geführt, sagt Stefan Goldmann. So werde die Konkurrenz für einzelne Stücke immer größer, kritisiert er.
Matthias Hanselmann: Stefan Goldmann ist international bekannter DJ, der in den angesagten Clubs unseres Planeten auflegt und nach jahrelanger Karriere als Musiker und DJ inzwischen seit ein paar Jahren auch sein eigenes Label betreibt - die Plattenfirma, wie es früher hieß, Macro. Inzwischen hat Stefan Goldmann auch schon häufiger über den Tellerrand der DJ-Szene hinausgeschaut und zum Beispiel unter anderem Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" bearbeitet. Vor Kurzem hat er einen Artikel über das Musikbusiness in diesen Zeiten der Digitalisierung und des Web 2.0 veröffentlicht, der den Zustand dieses Geschäfts schonungslos beschreibt und den Beruf des Musikers fast völlig neu definiert. Jetzt ist er bei uns, hallo, Stefan Goldmann!

Stefan Goldmann: Hallo!

Hanselmann: Ich möchte mit Ihnen über ein paar Themen in diesem Artikel sprechen, die ein recht düsteres Bild vom Beruf des Popmusikers unserer Tage zeichnen. Zum Beispiel schreiben Sie: Die Halbwertzeit der Karriere eines DJs und Produzenten scheint bei unter einem Jahr angekommen zu sein. Eine Karriere, die nicht länger dauert als ein Jahr, woran machen Sie das fest?

Goldmann: Das ist eine Entwicklung, die schon länger geht. Ursprünglich war mal der Gedanke von etwas wie Techno überhaupt keine Markt- oder Popkarriere. Das waren Leute, die in ihrer Freizeit plötzlich etwas machen konnten, was vorher nicht zugänglich war, und die erst mal eigentlich gar keine Karriereperspektive hatten. Die mussten sich irgendeine Umgebung erst mal aufbauen. Bloß das hat dann relativ schnell an Fahrt gewonnen, und wir haben Leute, die das seit 20 Jahren mittlerweile betreiben, und ein Ende ist eigentlich nicht in Sicht. Nur ist das nun mal ein Genre oder ein Bereich der Musikkultur, der wahnsinnig innovationsfixiert ist. Da geht es eigentlich oft darum, immer das nächste Ding zu finden, einen Schritt nach vorne zu wagen. Und entsprechend gab es schon immer einen gewissen Durchsatz an Leuten, die dann irgendwann als nicht innovationsfähig eingestuft wurden.

Hanselmann: Das heißt, es bestand ein gewisser Stress, so schnell wie möglich mit einem neuen Produkt nachzulegen. Damit man sich das vielleicht vorstellen kann: Sie sind in Ihrem Studio, produzieren ein Stück von drei Minuten bis, weiß ich, zehn Minuten Länge, mit verschiedenen Rhythmen, mit verschiedenen Sounds, die DJs in aller Welt legen es auf, und eine Woche später hat jeder danach getanzt, und dann muss was Neues kommen, oder?

Goldmann: Das ist mittlerweile so, früher war das noch nicht der Fall. Da haben sich tatsächlich Stücke auch schon in ihrer sozusagen primären Phase über ein Jahr lang gehalten oder länger, und dann gab es natürlich immer die Klassiker, das gibt es ja letztlich in jeder Musikbranche. Nur mittlerweile ist die Masse so groß und die Aufmerksamkeit wird nicht größer zugleich. Das heißt, jedes einzelne Produkt konkurriert mit immer mehr anderen Musikstücken, und es ist dann sehr verführerisch, einfach zu sagen, wir nehmen jetzt immer das, was gerade aktuell neu da ist.

Hanselmann: Wie hat sich das denn geändert, warum sind dann immer mehr auf den Markt gekommen und die Konkurrenz wurde immer größer?

Goldmann: Es gibt dieses Stichwort der sogenannten Demokratisierung, einerseits der Produktionsmittel, also wie entsteht die Musik, und andererseits des Vertriebsweges, also wie gelangt sie an den Hörer. Das eine ist, die Produktionsmittel wurden immer preiswerter, zuletzt hauptsächlich jetzt im Bereich elektronischer Musik, aber auch bei aufgenommenen Instrumenten die Computertechnik. Und jetzt mittlerweile gibt es dann eine Software, die quasi alles kann vermeintlich - das ist zumindest die Werbeaussage dafür -, und das wird dann auch ausgiebig genutzt. Das heißt, sehr viele Menschen können plötzlich irgendein Produkt erstellen, was einen Anschein hat, Musik zu sein.

Und der Vertriebsweg ist dann, wie gelangt dieses Produkt an den Hörer. Das war dann früher ein sehr komplexer Prozess. Ein Label musste das irgendwie vorfinanzieren, und dann gab es einen Vertrieb und einen Großhandel, also verschiedene Auswahlstufen, bis dieses Produkt überhaupt mal verfügbar war.

Und die Versprechung der sogenannten Demokratisierung war dann, dass diese komplette Kette dazwischen eliminiert wird, also dass der Künstler direkt mit seinem Hörer in Verbindung treten kann. Das Problem, was sich aber daraus ergibt, ist, dass jeder dank Demokratisierung diesen Zugriff dann hatte, und plötzlich war er nichts mehr wert. Wenn auf einen Hörer jetzt plötzlich 100.000 Angebote einprasseln, wird die Aufmerksamkeit aber nicht mehr, die man Einzelnen entgegenbringen kann. Und entweder trifft man dann eine Auswahl als Hörer, also okay, das gefällt mir jetzt halbwegs und daran halte ich mich jetzt fest und ich habe nicht mehr Zeit aufzuwenden, um mir diese 100.000 Vergleichsprodukte anzuhören, oder aber ich suche halt irgendwie weiter und nehme dann halt immer jeweils das aktuell Neueste.

Hanselmann: Also Sie beklagen eine weitgehende Entprofessionalisierung des Musikbusiness - tummeln sich denn nur noch Dilettanten auf dem Markt beziehungsweise im Internet?

Goldmann: Na ja, um eine Professionalität zu entwickeln, braucht es Zeit, und diese Zeit muss irgendwo mit erkauft werden. Und sobald das Einkommen entzogen wird der Musiker, was in letzter Zeit halt im großen Stil passiert ist, entwickelt sich diese Professionalität erst gar nicht. Ich beklage das insofern, dass plötzlich ganz andere Kriterien darüber entscheiden, wer Gelegenheit bekommt, eine Professionalität zu entwickeln. Also es geht gar nicht mehr darum, dass der talentierteste Marktteilnehmer sich durchsetzt und diese Zeit gewährt bekommt, weil die Aufmerksamkeit nicht mehr zu diesem talentiertesten Marktteilnehmer führt, sondern der merkantil Umgänglichste, der Erbreiche, der wirtschaftlich Wohlgestellte hat nun immense Startvorteile, und plötzlich verkehrt sich das Ganze eigentlich.

Es wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was immer propagiert wurde, also nicht der Zugang des Talentierten unter Eliminierung irgendwelcher komischer Auswahlkriterien wirtschaftlicher Natur findet statt, sondern gerade genau das Umgekehrte. Man muss wirtschaftliche Ressourcen jetzt plötzlich ganz woanders heranziehen, um mit seinem Talent irgendwo sich durchzusetzen.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Produzenten, DJ und Musiker Stefan Goldmann über den Beruf des Popmusikers in Zeiten des Web 2.0, in Zeiten der Digitalisierung und des Internet. Lassen Sie uns versuchen, das Positive jetzt mal aus all dem zu ziehen: Was sind die Chancen, die heute noch bestehen?

Goldmann: Früher gab es immer noch kommerzielle Erwägungen, auch im Indie-Bereich. Die mussten sich irgendwie rechtfertigen gegenüber ihrem Vertrieb zum Beispiel. Das ist heute nicht mehr der Fall. Eigentlich jegliche kommerzielle Erwägung ist im Prinzip unsinnig. Weil in dem Moment, wo es irgendwie einen Anschein von Massenkompatibilität hat, konkurriert es mit immer mehr Leuten, das heißt, es funktioniert einfach nicht. Was funktioniert, sind Sachen, die sich radikal von allem anderen absetzen, also Einmaligkeit. Das hat wirkliche Chancen.

Hanselmann: Ich bin da ehrlich gesagt ein bisschen skeptisch. Also wenn ich mir jetzt vorstelle, jemand sitzt da und sagt, ich mach jetzt mal was ganz, ganz anderes, was man so noch nie gehört hat, vergrößert er damit wirklich seine Chancen oder stellt er sich nicht noch mehr ins Abseits?

Goldmann: Nein, eigentlich nicht, weil gerade die Wahrnehmungskanäle heutzutage sehr novitätensüchtig sind. Das verbreitet sich über irgendwelche Clips auf YouTube oder Facebook oder so etwas. Je mehr etwas heraussticht, desto größer ist die Chance, dass es sich wirklich noch verbreitet, dass das eine Aufmerksamkeit zieht.

Hanselmann: Welche Beispiele gibt es dafür?

Goldmann: Es gibt z.B. dieses Label "Tapeworm", wo plötzlich ein merkwürdiges Konglomerat an Leuten Künstler dafür begeistern konnte, auf Musikkassette, auf Audiokassette zu produzieren und zu veröffentlichen. Das hat sehr viel Presse gebracht für die Künstler, für dieses Projekt - es war dann auf BBC Radio 4 und im "Spiegel" und was weiß ich wo.

Oder ich hab mich mal damit befasst, wie kann man sich der Welt klassischer Musik nähern. Da habe ich Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" so geschnitten, dass ich nichts daran ändere. Wie tut man das? Also die Partitur wird strikt eingehalten, nur man hört alle acht bis zehn Sekunden eine andere Interpretation. Man macht erst mal einfach Sachen, wo man vorher selber gar nicht genau weiß, was ist eigentlich der Zweck, und man ermittelt das dann im Nachhinein. Oder die Hörer finden dann ihre Freude daran - oder auch nicht. Das kann natürlich immer schiefgehen, nur wer es halt nicht versucht, geht einfach mittlerweile unter. Und ich muss doch sagen, es macht wahnsinnig viel Spaß, diese Nischen aktiv zu suchen und auszuschöpfen, wenn man das kann.

Hanselmann: Dennoch, für die Jüngeren muss ich zusammenfassen, für die, die vielleicht gerade anfangen, sich auf dem Musikmarkt zu tummeln, man sollte das wohl nicht tun in der Hoffnung, in drei Jahren davon leben zu können und das für den Rest seines Lebens, oder?

Goldmann: Man muss es sehr gut tun, um davon leben zu können, den Rest seines Lebens.

Hanselmann: Wir haben von Ihrem Label gesprochen, und die neueste Veröffentlichung auf diesem Label heißt "The Grand Hemiola". Sie haben ein kleines Beispiel dafür auch mitgebracht, das wir auch gleich hören werden. Da haben Sie genau das versucht, etwas Besonderes zu schaffen, etwas völlig Außergewöhnliches. Was war da Ihr Konzept, Ihre Idee?

Goldmann: Mein Konzept war, es gibt immer noch diesen Vinyl-Tonträger und es wird wahnsinnig viel veröffentlich darin, ohne dass ich einen konkreten Grund erkenne.

Hanselmann: Aber keiner hat mehr einen Plattenspieler.

Goldmann: Nein, das stimmt gar nicht, es gibt sehr, sehr viele Plattenspieler. Die Frage ist eigentlich, warum dieses Format, und ich habe etwas gesucht, was sehr spezifisch für dieses Format ist. Es gibt diese Möglichkeit, Endlosrillen zu machen, also eine eintaktige Komposition sozusagen auf dieses Vinyl zu ziehen - das kann man auf einer CD so nicht machen.

Und ich habe dann eine Möglichkeit gefunden, diese sehr beschränkten Rillen so zu kombinieren, dass man einen Baukasten hat, mit dem jemand, der sich das kauft, zu Hause selber rhythmische Schichtungen kombinieren kann, also wie eine Art Lego-Spiel für Erwachsene. Und dadurch erreiche ich plötzlich Leute, die sich jetzt nicht nur für meine Musik interessieren, sondern die einfach dieses Produkt interessant finden oder die sich für Vinyl interessieren oder die es einfach irgendwie spannend finden. Man hat plötzlich einen ganz anderen Kreis an Leuten erreicht, die man vorher nicht hatte.

Hanselmann: Daraus hören wir ein Beispiel, Stefan Goldmann aus der "Grand Hemiola", und ich bedanke mich bei dem Musiker und Produzenten Stefan Goldmann für dieses Gespräch und für die Einschätzungen und vielleicht auch ein bisschen für die positiven Zukunftsaussichten des Musikers im Web 2.0.

Goldmann: Danke.
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