Das "andere Kino" 1968

"Man wollte anders sein und hat Grenzen überschritten"

Der deutsche Filmemacher Hellmuth Costard
Der deutsche Filmemacher Hellmuth Costard, aufgenommen im Oktober 1969. Er wurde 1967 vor allem durch seinen Film "Besonders wertvoll" bekannt. © picture alliance/dpa/Foto: Rauschnick
Stefan Drößler im Gespräch mit Patrick Wellinski  · 13.01.2018
Auch im Kino gab es eine 68er-Revolution: Junge Filmemacher entdeckten, was man mit einer Kamera anstellen konnte, auch wenn man nur wenig Budget hat. Manche Filme wurden gezielt als Provokation gedreht, wie "Besonders wertvoll" von Hellmuth Costard, in dem ein Penis zu Wort kommt.
Patrick Wellinski: Es ist sicherlich eines der wichtigsten Jubiläen dieses Jahres: 50 Jahre 1968! Auch im Kino hat dieses Umbruchsjahr einiges verändert: In Cannes wurden damals die Filmfestspiele von den Regisseuren abgebrochen, um sich mit den protestierenden Arbeitern auf Frankreichs Straßen zu verbünden. Und in Deutschland war dieser Umbruch im Februar spürbar, als sich im Zuge einer unabhängigen Filmreihe in einem Hamburger Kino die erste deutsche Filmkooperative gründete und somit den Grundstein für ein wütendes und progressives Filmemachen legte. Man sprach damals vom "anderen Kino", also vom deutschen Underground. Passend dazu veranstaltet das Filmmuseum München einen Monat lang eine Reihe mit den Werken der wichtigsten Filmemacher, die 1968 in Deutschland versuchten, Altes mit Neuem zu ersetzen. Über das "andere Kino" und die Reihe dazu sprach ich vor der Sendung mit dem Leiter des Filmmuseums München Stefan Drößler. Guten Tag, Herr Drößler!
Stefan Drößler: Ja, schönen guten Tag!
Wellinski: Für alle, die vor 50 Jahren vielleicht nicht in der bundesrepublikanischen Filmszene unterwegs waren: Können Sie erzählen, was genau da im Februar 1968 im alten Kino in der Grindelallee bei der ersten Hamburger Filmschau geschah?
Drößler: Ja, es bezog sich jetzt nicht nur auf die Filmschau, aber es war ein Versuch von unabhängigen Filmemachern, eigene Filme zu präsentieren, völlig unabhängig von dem bis dahin herkömmlichen Kinosystem. Sie müssen ja sehen, Anfang der 60er-Jahre gab es das berühmte Oberhausener Manifest, das man heute gern als den Anfang des neuen deutschen Films betrachtet. Das waren Filmemacher, die wollten andere Filme machen, aber benutzten die herkömmlichen Strukturen. Das heißt, Mitte der 60er-Jahre entstanden dann von diesen sogenannten Jungfilmern Spielfilme, die ins Kino kamen und nach kurzer Zeit, weil sie nicht so erfolgreich waren, kaum noch ins Kino kamen.
Jury Kurzfilmtage Oberhausen 1962
Filmsichtung bei den Oberhausener Kurzfilmtagen in den frühen 60ern© dpa / picture alliance / Heinz Ducklau

Die neuen Filme liefen auf Festivals

1968 kam eine andere Generation von Filmemachern auf die Bühne, das waren Leute, die meistens auch in dem Nicht-Kino-Format – 16mm oder auch 8mm – gedreht haben und Formate herstellten, die nicht für das normale Kino primär gedacht waren. Und die suchten sich neue Präsentationsformen, und dazu gehörten neue Filmfestivals, wo jeder das zeigen konnte, was er mitbrachte, wie die Hamburger Filmschau, später auch die Hofer Filmtage, und sie suchten neue Veranstaltungssäle jenseits des Kinos, weil 16-Millimeter- oder Super-8-Projektoren, die konnte man selber mitbringen und plötzlich war es möglich, Filme auch außerhalb des kommerziellen Kinosystems vorzuführen.
Wellinski: Diese Filmemacher – Helmut Herbst zum Beispiel oder Adolf Winkelmann – haben die sich damals schon als Gruppe verstanden, als Einheit, die sich dann gegen eine andere Einheit – sagen wir mal, das junge Establishment oder das ältere Establishment – in der Filmszene gerichtet hat?
Drößler: Ja, das Interessante war, dass, anders als beim Oberhausener Manifest, wo die Unterzeichner alle aus München kamen – nur einer der 27 Unterzeichner stammte aus Berlin – hatten wir 1967/1968 die Situation, dass plötzlich überall in Deutschland Filmemacher ans Licht traten. Das war in Hamburg, München, Berlin, Köln, Dortmund, Kassel, Augsburg, Freiburg, überall war es jetzt möglich, weil die Leute mit den 16-Millimeter-Kameras die Produktionsmittel selbst in der Hand hatten. Also die großen 35-Millimeter-Kameras konnte man gar nicht selber besitzen, die musste man mieten, da war immer viel Geld vonnöten, auch um die Filme dann im Kopierwerk entwickeln zu lassen und zu kopieren, das war alles viel, viel billiger und konnte man jetzt selber leisten.

Völlig unterschiedliche Herangehensweisen

Insofern gab es in ganz Deutschland Initiativen und lauter kleine Grüppchen, wenn man so möchte, in den verschiedenen Orten, die sich dann auf diesen Festivals und bei diesen Anlässen trafen. Das war nicht so eine Gruppenstruktur, wie sie, ja, bei Oberhausen auch nicht so richtig, also bei den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, muss man sagen, bestand. Aber man hatte schon ein Verständnis, das für den Zusammenhalt taugte. Man wollte anders sein, man wollte neue Formen ausprobieren. Und da war das Feld ganz weit gestreckt.
Wellinski: Welche Themen sprachen sie denn an in ihren Filmen, was hat diese Filmemacher denn interessiert?
Drößler: Das waren völlig unterschiedliche Herangehensweisen. Wir hatten bei uns jetzt im Filmmuseum in der ersten Vorstellung ein Programm, da waren nur Filme zusammengetragen, in denen die Filmemacher sich selber filmten oder ihre Kamera ausprobierten, einfach als Spielzeug, damit auf die Wiese liefen, sie in die Luft geworfen haben und geschaut haben, was kamen da für Bilder heraus, die sie dann montiert haben. Das waren diese ganz naiven, ja, Vorläufer von Selfies, könnte man sagen, was heute jeder mit seinem Handy auch schon mal ausprobiert hat. Aber damals war es halt ganz neu.
Andere setzten die Kameras in der politischen Auseinandersetzung ein, insbesondere in Berlin. Die Studenten, die auf die Straße gingen, hatten plötzlich auch Kameras dabei. Und es ist sehr interessant zu sehen, wie die Polizisten, die das gar nicht gewohnt waren, dass jetzt die andere Seite sie auch filmte, die wussten immer, dass die traditionellen Medien, die "Wochenschau" oder Fernsehen, immer auf ihrer Seite waren und mussten sich nicht schützen gegen ungewollte Bilder. Jetzt standen plötzlich die Studenten da mit den kleinen Kameras und haben die prügelnden Polizisten gefilmt oder sie sind zu Polizisten gegangen und haben sie einfach befragt auf der Straße. Das ist sehr lustig zu sehen, wie die Polizisten sich dann so abwenden von der Kamera, aber nicht trauen, die Kamera zuzuhalten oder den Studenten die Kamera wegzunehmen, weil sie nicht wussten, wie sie mit dieser völlig ungewöhnlichen Situation umgehen.

Strukturelle und politische Avantgarde

Es gab wiederum andere Filmemacher, die den Film und das Filmmaterial mehr als ein Kunstmaterial angesehen haben. Das heißt, die haben das Material als solches zerlegt und wieder neu zusammengesetzt und haben die Struktur des Films untersucht. Da sind dann abstrakte Experimentalfilme entstanden. Und es gab natürlich wiederum andere, die Formen des Erzählkinos, die sie kannten, versucht haben zu dekonstruieren in ihren Kurzfilmen, und da etwas ganz Eigenes wieder geschaffen haben. Es war alles möglich, die künstlerische, die strukturelle Avantgarde ging mit der politischen Avantgarde zusammen und das sind immer ganz besonders interessante Punkte in der Geschichte.
Wellinski: Wie groß war denn da das Interesse oder auch das Bewusstsein an Provokation? Einige dieser Filme haben ja dann später für kleinere oder auch größere Skandale gesorgt.
Drößler: Man wollte anders sein und hat natürlich dann auch Grenzen überschritten. Und der bekannteste Film war der Film "Besonders wertvoll" von Hellmuth Costard, der wurde ganz gezielt als Provokation für das Oberhausener Festival gedreht. Das versuchte sich auch zu demokratisieren und hatte dann ein Gremium von Filmkritikern einberufen, die Empfehlungen für die Filmauswahl ausgaben. Und Hellmuth Costard, der von der Hamburger Filmschau kam, wollte offenbar in Oberhausen auch vorführen, dass dieses Festival - das damals schon eine längere Tradition hatte, von der öffentlichen Hand eingerichtet wurde, um den Dialog zwischen Ost und West zu fördern - dass dieses Festival doch nicht so frei war wie die selbst organisierten Festivals, und hat dann einen Film gegen das neue Filmförderungsgesetz hergestellt, indem er einen Penis den Filmförderungstext sprechen ließ.
Und das wurde dann als Pornografie plötzlich klassifiziert und dann, obwohl das Auswahlgremium den Film favorisiert hatte, konnte der Film dann nicht gezeigt werden, die Festivalleitung hat die Aufführung verboten und es gab dann Alternativvorführungen, heimlich, außerhalb des Festivals... Da war natürlich eine sehr gezielte Provokation vorgesehen, die dann auch funktioniert hat. Daraufhin zogen viele Filmemacher ihre Filme zurück und die neuen, eigenen, selbst organisierten Festivals haben davon sehr profitiert.

Manches wirkt heute "rührend naiv"

Wellinski: Wie sieht das denn heute aus, aus der heutigen Sicht? Diese Filme, haben sie noch die Wirkung, die sie damals hatten, oder ist jetzt vieles auch, sagen wir mal, etwas weniger gut gealtert?
Drößler: Wenn man so eine Sache vorbereitet, die ganzen Filme gesichtet hat und schon über Jahre versucht hat zu sammeln, die Informationen, die Bezugsquellen, und wir haben ja auch einige Filme restauriert, dann verliert man natürlich etwas die Distanz dazu. Aber natürlich, wenn man diese Filme, die jetzt in der ersten Vorstellung gelaufen sind, in denen die Filmemacher so ganz neu mit der Kamera ihre Experimente machen, wenn man das heute betrachtet, wirkt das naiv und für manche heute kaum nachvollziehbar, wo schon Kinder mit Handys aufwachsen und jeder sofort eine Kamera zur Hand hat und seine Erfahrungen damit gemacht hat. Da wirkt das rührend naiv, wenn man sieht, wie da 20-Jährige zum ersten Mal mit der Kamera auf Entdeckungstour gehen. Aber die guten Filme haben ihre Frische durchaus behalten und manche Filme wirken heute wahrscheinlich etwas kindischer, als sie damals aufgenommen wurden.
Wellinski: Stefan Drößler, der Leiter des Filmmuseums München – vielen Dank für Ihre Zeit!
Drößler: Ja, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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