Das Alltägliche neu sehen lernen
In der Schweiz gibt es viele große Fotografen. Da ist Jakob Tuggener, der diskrete Beobachter und „filmische Maler“ Schweizer Lebens. Da ist René Burri, Mitbegründer der Agentur „Magnum“ und einer der besten Reportagefotografen, die es je gegeben hat. Und da ist Robert Frank, der 1947, gerade 23-jährig, seine Heimat, die Schweiz, Richtung USA verließ. Jetzt zeigt das Winterthurer Fotomuseum eine Schau der Jungen Schweizer Fotografen.
An Robert Franks sachlich-nüchterm und detailgenauem, dabei zugleich aber poetischem Blick auf die Kehrseiten der amerikanischen Traums, auf Verelendung, Armut und Leid, arbeiten sich viele der jungen Schweizer Fotografen auch heute noch ab. Auch wenn die Zusammenhänge, in denen wir leben, komplexer geworden sind. Konnte Robert Frank noch eine ausgemergelte Landarbeiterfamilie als Preis des Fortschritts zeigen, so sind wir den Anblick von Armen und Obdachlosen heute gewohnt. Er verweist nicht mehr auf ein Einzelschicksal, sondern auf größere Zusammenhänge. Urs Stahel, Kurator der Schau:
„In der Philosophie, im Strukturalismus, sagt man, das Subjekt hat ausgedient. Wir sehen die Welt als ein System, in dem wir Elemente sind in diesem System, aber wir sind keine Subjekte im Sinne des 19. Jahrhunderts mehr. Im Sinne dieses Autors, der selber schöpferisch tätig ist und die Welt beeinflusst – nein! Es gibt Systeme, die sich selbst regulieren, und wir sind Teil dieser Systeme.“
Als ein Teil solcher Systeme verstehen sich die meisten der jungen Schweizer Fotografen. Sie sind Beobachter dessen, was sie festhalten, aber indem sie es beobachten, sind sie ein Teil von ihm. Das wissen sie. Ob die junge Frau, die sich im Wohnzimmer eine Strumpfhose anzieht oder jene, die im Schatten eines großen Platzes in einem Dorf steht, ob das Haus vor einem Bäumerwald oder vor einem einzelnen Baum, ob der Blick aus dem Flugzeug oder der unter dem Mikroskop, ob die Almhütte, die in Wirklichkeit ein getarnter Bunker ist oder das Gehirn, das ganz aus Nudeln geformt ist (eine der ganz wenigen wirklich lustigen Arbeiten) – immer ist der Standpunkt des Betrachters klar. Man ist Teil von dem, was man festhält. Und was man festhält, ist nie die Gegenwart. Urs Stahel.
„Eine Fotografie ist immer Vergangenheit. Ist immer Vorgegenwart. In dem Moment, und damit weiß ich, dass ich einen klischierten Satz sage, in dem Moment, wo man auf den Auslöser drückt, ist es Vorgegenwart. Fotografie kann in dem Sinne keine Gegenwart zeigen. Vor allem, sie kann auch keine Zukunft zeigen. Sie kann eigentlich immer nur gesellschaftlich beobachtend, analysierend festhalten.“
Und so halten die jungen Schweizer Fotografen im Nachhinein ihren Ausschnitt von Welt fest. Einen gesehenen oder einen inszenierten Ausschnitt. Marianne Engel lässt mit Lichtregie und farblichen Überblendungen einen „Zauberwald“ entstehen. Eine märchenhafte Welt im Grünen. Ganz nah ist sie, eine Welt aus Braun, Grün, Rot, aus Wald und Blättern, und doch ist sie gespensterhaft. Man erkennt, dass künstliche Beleuchtung hier eingesetzt wurde, dass das Bild inszeniert ist, und man ahnt, dass für die Farben die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung am PC eingesetzt wurden. Doch Vorsicht, sagt uns die Schau: Nicht erst seit man Bilder in Pixel auflösen kann und eine Fotografie am Bildschirm digital bearbeiten, also manipulieren kann, ist Fotografie kein simples Abbild der Wirklichkeit. Sondern sie war und ist stets ein Konstrukt, eine Spekulation auf das, was Wirklichkeit ist. Urs Stahel:
„Dieser Druck, den die Fotografie bis heute noch hat, sie muss einen dokumentarischen Wert haben, ist ganz stark in den Hintergrund gerückt. Fotografie ist immer eine Fiktion. Ist immer eine Inszenierung. Und hat einfach über die Inszenierung hinein dann einen reellen Wert, weil es um das Leben geht. Aber es wird nicht mehr darum gekämpft, dass das Einzelbild irgendeine Wahrheit enthalten muss.“
Eine riesige schwarze Welle schwappt an Land, einem Tsuanmi gleich, bei näherem Hinschauen entdeckt man, dass diese Welle aus rissigem Teer besteht. Über den Kamm hat die Fotografin Gischt und Wasser hineinmontiert. Realität und Fiktion verfließen zu einer fantastischen Wirklichkeit, eine reale Fantasie. Und: Ein Beispiel für die Möglichkeiten der Digitalisierung in der Fotografie. Sie haben die Fotografie natürlich verändert. Man kann viel schneller viel mehr Bilder „schießen“, man kann sie viel schneller am PC bearbeiten und „künstliche“ Welten „erschaffen“, man kann viel schneller löschen und vergessen. Es gibt immer mehr Bilder, und man vergisst sie immer schneller. Ein Zug unserer Zeit.
Und noch etwas: Etwas typisch Schweizerisches kann man an diesen Fotografien nicht feststellen. Wenn nicht die handwerkliche Perfektion, die in der Schweiz ja eine lange Tradition hat, oder der liebevolle Blick auf das sprechende Kleine, nicht auf das große Ganze. Aber das tut die Fotografie in Deutschland oder in England auch. Die jungen Fotografen heute haben den Alltag im Blick, die Banalität des Alltags, seine Rohheit und raue Wirklichkeit. Was man immer schon sehen kann, die Mülltonne am Straßenrand, die Passanten auf dem Gehsteig, der Verletzte, der auf einem improvisierten Tisch liegt wie ein Flohmarktartikel mit einer Nummer – hier ist alles in einem neuen Licht zu sehen. Seht her, scheint uns diese Fotografie zu sagen, das ist der Alltag, an dem ihr jedes Mal vorbeigeht... Das Alltägliche neu sehen lernen – das ist die Quintessenz dieser Ausstellung, die Junge Fotografie nicht nur aus der Schweiz, sie öffnet uns erneut die Augen für das, was uns umgibt! Sehenswert!
Service: Die Ausstellung „Reale Fantasien – Neue Fotografie aus der Schweiz“ ist vom 4.3. bis zum 21.5.2006 zu sehen.
„In der Philosophie, im Strukturalismus, sagt man, das Subjekt hat ausgedient. Wir sehen die Welt als ein System, in dem wir Elemente sind in diesem System, aber wir sind keine Subjekte im Sinne des 19. Jahrhunderts mehr. Im Sinne dieses Autors, der selber schöpferisch tätig ist und die Welt beeinflusst – nein! Es gibt Systeme, die sich selbst regulieren, und wir sind Teil dieser Systeme.“
Als ein Teil solcher Systeme verstehen sich die meisten der jungen Schweizer Fotografen. Sie sind Beobachter dessen, was sie festhalten, aber indem sie es beobachten, sind sie ein Teil von ihm. Das wissen sie. Ob die junge Frau, die sich im Wohnzimmer eine Strumpfhose anzieht oder jene, die im Schatten eines großen Platzes in einem Dorf steht, ob das Haus vor einem Bäumerwald oder vor einem einzelnen Baum, ob der Blick aus dem Flugzeug oder der unter dem Mikroskop, ob die Almhütte, die in Wirklichkeit ein getarnter Bunker ist oder das Gehirn, das ganz aus Nudeln geformt ist (eine der ganz wenigen wirklich lustigen Arbeiten) – immer ist der Standpunkt des Betrachters klar. Man ist Teil von dem, was man festhält. Und was man festhält, ist nie die Gegenwart. Urs Stahel.
„Eine Fotografie ist immer Vergangenheit. Ist immer Vorgegenwart. In dem Moment, und damit weiß ich, dass ich einen klischierten Satz sage, in dem Moment, wo man auf den Auslöser drückt, ist es Vorgegenwart. Fotografie kann in dem Sinne keine Gegenwart zeigen. Vor allem, sie kann auch keine Zukunft zeigen. Sie kann eigentlich immer nur gesellschaftlich beobachtend, analysierend festhalten.“
Und so halten die jungen Schweizer Fotografen im Nachhinein ihren Ausschnitt von Welt fest. Einen gesehenen oder einen inszenierten Ausschnitt. Marianne Engel lässt mit Lichtregie und farblichen Überblendungen einen „Zauberwald“ entstehen. Eine märchenhafte Welt im Grünen. Ganz nah ist sie, eine Welt aus Braun, Grün, Rot, aus Wald und Blättern, und doch ist sie gespensterhaft. Man erkennt, dass künstliche Beleuchtung hier eingesetzt wurde, dass das Bild inszeniert ist, und man ahnt, dass für die Farben die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung am PC eingesetzt wurden. Doch Vorsicht, sagt uns die Schau: Nicht erst seit man Bilder in Pixel auflösen kann und eine Fotografie am Bildschirm digital bearbeiten, also manipulieren kann, ist Fotografie kein simples Abbild der Wirklichkeit. Sondern sie war und ist stets ein Konstrukt, eine Spekulation auf das, was Wirklichkeit ist. Urs Stahel:
„Dieser Druck, den die Fotografie bis heute noch hat, sie muss einen dokumentarischen Wert haben, ist ganz stark in den Hintergrund gerückt. Fotografie ist immer eine Fiktion. Ist immer eine Inszenierung. Und hat einfach über die Inszenierung hinein dann einen reellen Wert, weil es um das Leben geht. Aber es wird nicht mehr darum gekämpft, dass das Einzelbild irgendeine Wahrheit enthalten muss.“
Eine riesige schwarze Welle schwappt an Land, einem Tsuanmi gleich, bei näherem Hinschauen entdeckt man, dass diese Welle aus rissigem Teer besteht. Über den Kamm hat die Fotografin Gischt und Wasser hineinmontiert. Realität und Fiktion verfließen zu einer fantastischen Wirklichkeit, eine reale Fantasie. Und: Ein Beispiel für die Möglichkeiten der Digitalisierung in der Fotografie. Sie haben die Fotografie natürlich verändert. Man kann viel schneller viel mehr Bilder „schießen“, man kann sie viel schneller am PC bearbeiten und „künstliche“ Welten „erschaffen“, man kann viel schneller löschen und vergessen. Es gibt immer mehr Bilder, und man vergisst sie immer schneller. Ein Zug unserer Zeit.
Und noch etwas: Etwas typisch Schweizerisches kann man an diesen Fotografien nicht feststellen. Wenn nicht die handwerkliche Perfektion, die in der Schweiz ja eine lange Tradition hat, oder der liebevolle Blick auf das sprechende Kleine, nicht auf das große Ganze. Aber das tut die Fotografie in Deutschland oder in England auch. Die jungen Fotografen heute haben den Alltag im Blick, die Banalität des Alltags, seine Rohheit und raue Wirklichkeit. Was man immer schon sehen kann, die Mülltonne am Straßenrand, die Passanten auf dem Gehsteig, der Verletzte, der auf einem improvisierten Tisch liegt wie ein Flohmarktartikel mit einer Nummer – hier ist alles in einem neuen Licht zu sehen. Seht her, scheint uns diese Fotografie zu sagen, das ist der Alltag, an dem ihr jedes Mal vorbeigeht... Das Alltägliche neu sehen lernen – das ist die Quintessenz dieser Ausstellung, die Junge Fotografie nicht nur aus der Schweiz, sie öffnet uns erneut die Augen für das, was uns umgibt! Sehenswert!
Service: Die Ausstellung „Reale Fantasien – Neue Fotografie aus der Schweiz“ ist vom 4.3. bis zum 21.5.2006 zu sehen.