Werke des Übergangs

György Ligeti und seine A-cappella-Chorwerke

György Ligeti steht mit einem grünlichen Pullover und weißem Haar vor einer Wasserkunst, die wie ein großer Wasserfall aussieht.
György Ligeti, hier 1989, nahm auf seine Flucht von Ungarn nach Österreich auch ein Werk für Chor a-cappella im Reisegepäck mit. © picture-alliance / akg-images / Marion Kalter
24.05.2023
Das A-cappella-Chorwerk Ligetis ist umfangreicher als man meint. Dabei gibt es hier viel zu entdecken, denn es lassen sich kompositorische wie biographische Meilensteine ablesen.
Viel zu selten spielt das a-cappella-Chorwerk Ligetis eine Rolle in der Rezeptionsgeschichte, da sich diese vor allem auf Orchester- und Kammermusikwerke konzentriert. Wir stellen einige Werke vor.

Erste Versuche

Sein frühes Chorstück "Choral" komponierte Ligeti im Jahr 1941. Da war er gerade 19 Jahre alt und wollte nach dem bestandenen Abitur eigentlich Mathematik und Physik studieren. Doch aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er nicht an der Universität zugelassen.
Dieses Werk kam kaum zur Geltung, denn es wurde wie "Temetés a tengeren" ("Bestattung auf See") aus dem Jahr 1943 erst zu Ligetis 100. Geburtstag erstmals auf CD eingespielt, auf der Doppel-CD des SWR Vokalensembles mit dem Titel „György Ligeti – Complete Works for a cappella Choir“. Darauf sind 31 Werke vereinigt.

Musikstudium in Budapest

"Mágany" ("Einsamkeit") nach einem Text von Sandor Weöres entstand 1946 für dreistimmigen gemischten Chor. Zu dieser Zeit studierte György Ligeti an der Musikhochschule in Budapest. Er hat die ersten drei Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, auch wenn die Stadt zerstört war und es kaum etwas zu Essen gab, als eine irgendwie verrückte, aber freie und kulturell wunderbare Zeit beschrieben. Vieles war möglich, noch war nichts verboten.  
Ab 1948 sollte sich das schlagartig ändern. In kürzester Zeit war alles Neue aus den Museen und Konzertprogrammen und auch den Bibliotheken verschwunden. Texte wie die von Sandor Weöres wurden für eine lange Zeit nicht mehr verlegt.

Schutzschild Volksmusik

Spätestens jetzt waren die volksmusikalischen Studien, die György Ligeti in seiner Heimat Siebenbürgen in der Nachfolge von Béla Bartók und Zoltán Kodály betrieben hatte, zum Schutzschild gegenüber der Politik geworden. Die kompositorische Beschäftigung mit der ungarischen und rumänischen Volksmusik passte zum sozialistischen Realismus, der zur Staatsdoktrin erhoben worden war.
Doch ungarische Volkstexte oder Melodien halfen nicht immer. Manche seiner Stücke wurden verboten, wie "Hey, die Jugend!" von 1952. Es wurde wegen „pupertärer Aufsässigkeit“ abgelehnt. Oder "Witwe Papai", eine Parodie auf eine ungarische Volksballade, die angereichert mit Rufen und Schreien, mit effektvollen Stimmungswechseln und lautmalerischen Passagen zu viele Dissonanzen für die staatlich geförderte Musik beinhaltete.

Eine Einladung von der Staatssicherheit

Häufig gesungen wurden dagegen die "Zwei Doppeltänze" aus der Kálló-Region. Die hatte der geschätzte Klavierpädagoge und Chorleiter Józef Gát für seinen Chor bei Ligeti in Auftrag gegeben. Ligeti fragte nicht weiter nach und erhielt einige Zeit später eine Vorladung von der Staatssicherheit.
In Sorge, verhaftet zu werden erschien er und wurde in einen Saal geführt. Dort erwartete ihn Józef Gát mit seinem Chor: 50 Sängerinnen und Sänger, gekleidet in die Uniformen der bewaffneten Grenztruppen der Staatssicherheit, die sich freuten, ihm seine beiden frisch komponierten Tänze vorzusingen. An die Umstände dieser Uraufführung dachte der Komponist immer mit Schaudern zurück.

Erste Anstellung

Anfang der 1950er-Jahre erhielt Ligeti seine erste Stelle als Dozent an der Budapester Musikhochschule. Die verdankte er Zoltán Kodály, der ihn eigentlich für seine Nachfolge in Sachen Volksmusik gewinnen wollte. Ligeti lehnte ab. Doch Kodály, den Ligeti selbst nicht unbedingt für einen herausragenden Komponisten hielt, blieb sein Fürsprecher, was ihm Ligeti nie vergaß. Auch in dieser Zeit entstanden Werke für Chor a cappella wie die "Drei Lieder aus Inaktelke" von 1953.

Bruch mit der staatlichen Linie

Eines der Chorwerke, die an der Schwelle zu etwas Neuem entstanden sind, ist das Werkpaar "Éjszaka – Reggel" ("Nacht – Morgen"). Hier wird der Übergang, wie Ligeti selbst sagt, „vom Bartók-Nachfolgertum zur Ausbildung meines reiferen Stils – komplexe Polyphonie und Klangflächen – dokumentiert.“ Ein Schlüsselwerk also – auf Texte des von Ligeti sehr geschätzten und am häufigsten vertonten Sandor Weöres.
Es entstand 1955 als letzte vollendete Kompositionen vor Ligetis Flucht aus Ungarn in den Westen. Die Mikropolyphonie, die wenig später seine Klangflächenkompositionen prägen sollte, ist hier bereits angelegt. Das Werk trat eine wichtige Reise mit an. Die Uraufführung fand erst 1968 statt.

Flucht aus Ungarn und Selbstfindung

1956 floh der Komponist als blinder Passagier in einem Lastwagen nach Österreich. Er lebte zunächst in Wien, fand schnell Anschluss an die Szene der Neuen Musik im Westen. Das bekannteste Vokalwerk Ligetis läutet ebenfalls eine neue Phase ein, ein echtes Schlüsselwerk der Moderne: "Lux aeterna" ("Ewiges Licht"), 1966 für die Schola Cantorum von Clytus Gottwald komponiert.
Für Ligeti ein „Experiment mit harmonischer Klangfarbenmusik, wo ich mit meinem vorangegangenen Stil der chromatischen Tonhäufungen (Cluster wie in Atmosphères oder Requiem) brach. Es ist ein 16-stimmiges Stück mit diatonischer Stimmführung von komplexen Kanons. 'Mokropolyphonie' bedeutet ein so dichtes polyphones Gewebe, dass die Einzelstimmen unhörbar werden und nur die resultierenden ineinanderfließenden Harmonien als Gestalt wirken.“

Ende des Werkkanons

Nur zwei weitere reine a-cappella-Werke hat Ligeti danach noch geschrieben: 1982 entstanden die "Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin". Ligeti hat nur einige Verse aus Hölderlins Abendphantasie ausgewählt und streng kanonisch versetzt, in hoher Dichte komponiert.
Und 1983 komponierte er die "Magyar Etüdök" ("Ungarische Etüden") für Clytus Gottwald: komplexe, abstrakt konstruierte und zugleich sinnlich konkrete Stücke, wiederum auf Texte von Sandor Weöres.
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