Das 11. Plenum der SED

"Unsere DDR ist ein sauberer Staat"

Walter Ulbricht beim 6. Parteitag der SED 1961
Walter Ulbricht glaubte, Künstler würden die Jugend gegen die DDR aufhetzen. © picture alliance / dpa-Zentralbild / ADN
Von Nicolaus Schröder · 02.12.2015
Vor 50 Jahren blies die SED auf ihrem "Kahlschlagplenum" zum Bildersturm, zum Kampf gegen die Moderne. Doch der Versuch, Künstler auf Parteilinie zu zwingen, erzeugte ungeahnten Widerstandsgeist und setzte eine Dynamik frei, die am Ende die DDR wegfegte.
Vielleicht ist das Tagebuch in nächster Zeit die einzige Kunstform, in der man ehrlich bleiben, in der man die sonst überall nötig oder unvermeidlich werdenden Kompromisse vermeiden kann. Das Plenum hat entschieden: Die Realität wird abgeschafft. Anna Seghers sagt: "Es gab schon Schlimmeres. Unter Stalin wurden die Leute an die Wand gestellt - jetzt nicht mehr. Ist das vielleicht kein Fortschritt? Im Übrigen geht es vorbei. Oder es bleibt so, dann muss man sich darauf einstellen."
Ulbricht: "Wir wissen auch nicht alles, noch nicht alles. Als in der DDR durch bestimmte Gruppen der Jugend und die sogenannte Beatbewegung Exzesse sichtbar waren, haben wir also uns die Frage gestellt, was sind die Ursachen. Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es nicht richtig wäre, sozusagen mit einer Jugenddiskussion zu beginnen, sondern wir haben uns gesagt, wollen wir doch mal beginnen mit der Untersuchung - oben. Wo ist von Seiten zentraler Organe des Fernsehens, der Kultur, der Literatur so gewirkt worden, dass solche Auswirkungen auf die Jungen unvermeidlich waren."
Die Künstler haben der Partei die Jugend verhetzt. 1965, auf dem 11. Plenum des ZK der SED, zeigt sich Walter Ulbricht davon zutiefst überzeugt.
"Die Realität wird abgeschafft."
Christa Wolf ist verzweifelt. "Heute sollen wir geschlachtet werden", hat ihr ein Kollege auf dem Weg zur entscheidenden Sitzung zugeraunt. Kann eine wie sie bald nur noch im Tagebuch ehrlich sein?
Das 11. Plenum des ZK der SED markiert den zentralen Bruch in der DDR-Kulturpolitik. Dieser Konflikt ist von der Partei sorgfältig inszeniert. Erich Honecker, 1965 Berichterstatter des Politbüros an das ZK der SED, hat ganze Arbeit geleistet:
"Unsere Deutsche Demokratische Republik ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte. In den letzten Monaten gab es einige Vorfälle, die unsere besondere Aufmerksamkeit erforderten. Einzelne Jugendliche schlossen sich zu Gruppen zusammen und begingen kriminelle Handlungen, es gab Vergewaltigungen und Erscheinungen des Rowdytums. Hier zeigt sich wiederum der negative Einfluss von Westfernsehen und Westrundfunk auf Teile unserer Bevölkerung. Wir stimmen jenen zu, die feststellen, dass die Ursachen für diese Erscheinungen der Unmoral und einer dem Sozialismus fremden Lebensweise auch in einigen Filmen, Fernsehsendungen, Theaterstücken, literarischen Arbeiten und in Zeitschriften bei uns zu sehen sind. Es häuften sich in letzter Zeit auch in Sendungen des Deutschen Fernsehfunks, in Filmen und Zeitschriften antihumanistische Darstellungen. Brutalitäten werden geschildert, das menschliche Handeln auf sexuelle Triebhaftigkeit reduziert."
Die Schriftstellerin Christa Wolf im Jahr 1989, hier bei einer Lesung in Leipzig.
Die Schriftstellerin Christa Wolf im Jahr 1989, hier bei einer Lesung in Leipzig. © picture-alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch

Sand im Getriebe der DDR

Vorab ist jedem Plenumsmitglied eine Lesemappe ausgehändigt worden. Über 150 Seiten stark - "nur persönlich zu öffnen" und allein im ZK-Gebäude zu lesen - besteht diese Pflichtlektüre zum größten Teil aus Gutachten zu einzelnen Kunstwerken, Einschätzungen kultureller Tendenzen und Spitzelberichten über die Situation an den Universitäten. Die Abfolge der Dokumente wirkt willkürlich, wer die Mappe jedoch von vorne bis hinten durcharbeitet, muss die DDR in ihrem Bestand bedroht sehen. Zu den Künstlern, die besonders hervorgehoben werden, gehört der Schriftsteller Volker Braun. Sein Stück DER KIPPER PAUL BAUCH, das 1965 am Berliner Ensemble vorbereitet wird, stellt das Politbüromitglied Paul Verner vor:
"Dies Stück behandelt den Arbeiter Paul Bauch, ähnlich sozusagen wie also Balla, ähnlich wie Balla. Solche Menschen gibt es und zwar auf der Großbaustelle in Lauchhammer 1959 und 60. Aber, Genossen, wie wir also das gelesen haben und unsere Wissenschaftler, wir haben es dann den Wissenschaftlern gegeben so, analysiert das mal, waren wir ehrlich erschüttert. Erschüttert darüber, dass wir uns gefragt haben, wo lebt dieser Schriftsteller? Das kann nicht die Freiheit zu seinem Stoff sein. Wo lebt dieser Schriftsteller? Mit welchen verbildeten und falschen Augen sieht er unsere Wirklichkeit, ihre Konflikte und Lösungen? Und wie endet das Stück? Es endet so, letztes Bild:
Im Werksleitungszimmer Banasch, das ist der Betriebsdirektor, der Parteisekretär Genosse Ludwig. Bansch liest aus Bauchs Kaderakte vor. Bis hierher geht die Regieanweisung.
Paul Bauch, geboren 1932, von der Wismut delegiert zur Arbeiter- und Bauernfakultät, abgebrochen ..."
Paul Bauch, Arbeiter, Student, Kandidat der Partei, scheitert. So haben sich die Genossen aus dem Politbüro die Biografie eines Arbeiters mit Ambitionen nicht vorgestellt und so wie den Brigadier Balla aus der aktuellen Kinoproduktion SPUR DER STEINE von Frank Beyer auch nicht.
Wie lebt es sich im Arbeiter- und Bauernstaat, und welches Bild darf die Kunst von diesem Leben zeichnen? In der Partei herrscht darüber eine klare Vorstellung. Albert Norden, Mitglied des Politbüros, Sekretär für Agitation, argumentiert:
"Nun übersieht niemand von uns, und wir hier im Zentralkomitee am aller wenigsten, dass es in unserem Leben neben außerordentlichen Erfolgen, Fortschritten usw. noch mancherlei Mängel gibt und niemand will die Kunst rein auf die Illustrierung von Erfolgen beschränkt wissen. Aber ebenso wenig wollen wir die Kunst zum Illustrator von Schwierigkeiten ausschließlich degradieren lassen. Ist es nicht notwendig, mit aller Eindeutigkeit klarzustellen, dass derjenige, der Mangel an Mangel reiht, in Wirklichkeit unser Leben verfälscht und für unsere Feinde Kugeln gießt?! Wer die sozialistische Wirklichkeit so verzerrt sieht, der spiegelt einfach kleinbürgerliche Auffassungen wider."

Verboten und kaltgestellt

Als "Kahlschlag-Plenum" geht das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 in die Geschichte der DDR ein. Seine Folgen sind schon auf den ersten Blick eindrucksvoll: Die komplette Spielfilmproduktion der DEFA von 1965/66 - verboten, eine Reihe von Fernsehproduktionen ebenso, die beteiligten Autoren, Regisseure, Dramaturgen und Schauspieler - kaltgestellt, Inszenierungen zurückgezogen, Auftritte verboten. Bei den Schriftstellern, in den Verlagen und Redaktionen herrscht Verunsicherung. Arbeitskollektive werden zerschlagen, Veröffentlichungen noch strenger kontrolliert. Alle Anzeichen der Liberalisierung, die es in der Kulturpolitik gab, sind mit einem Mal erloschen, dem Tauwetter folgt eine Eiszeit. Sozialistisch gesinnte Literaten und Künstler hatten gehofft, dass der Mauerbau 1961 der DDR Ruhe bringen würde, um den Sozialismus aufblühen zu lassen - kritisch begleitet von den Kulturschaffenden. Was war passiert? Der Publizist Claus Löser:
"Wir befinden uns in 1965/66, am Ende eines ausgerufenen Sieben-Jahr-Plans, der 1959 publik gemacht wurde. Und es war dieser super ehrgeizige Wirtschaftsplan im Grunde, die DDR in Kürze zu einer Welt führenden Macht zu machen. Das hat im Grunde auch wieder damit zu tun, mit der Scheu der DDR-Führung, sich innenpolitisch auf die Reformen einzulassen, die aus der Sowjetunion kamen. 1965 hat sich spätestens dann herausgestellt, dass diese Blütenträume der DDR als Wirtschaftswunderland gescheitert sind."
"Und irgendwie schien die Genossen dann auf der Leitungsebene generell zu interessieren, wo ist da eigentlich Sand im Getriebe? Was machen hier die Kulturschaffenden, unterstützen die den Reformprozess, der in verschiedener Ebene in Gang kommt? Und plötzlich fällt das Schlaglicht der Scheinwerfer auf die Schriftsteller, Theaterleute, Biermann spielt damals schon eine Rolle, Lyrik spielt eine Rolle, dann vor allem der Film und daran beißen sie sich dann fest, als wäre das das Hauptproblem."
Nach Ansicht des Kultursoziologen Wolfgang Engler hatte der Mauerbau von 1961 tatsächlich eine Liberalisierung der Kulturpolitik bewirkt.
"Auch Heiner Müller hat sich rückblickend mal so geäußert 'jetzt machen wir Sozialismus, jetzt können sie uns nicht mehr weglaufen!' Das Dumme war nur, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung das vollkommen anders sah."
Die nach 1961 einsetzende Liberalisierung betraf nicht nur die Kultur. "NÖSPL", das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, sollte die Planwirtschaft reformieren, flache Hierarchien und Mitbestimmung sollten die Produktivität steigern. Der bärbeißige Brigadier Balla aus SPUR DER STEINE passte da gut in die Zeit. Er folgt nicht blind dem Plan der Partei, sondern übernimmt selbst Verantwortung. Balla ist der Held eines neuen Kulturverständnisses.
"Greif zur Feder, Kumpel" lautete die Losung der ersten Bitterfelder Literaturkonferenz von 1959. Mit ihr sollte eine Diskussion über die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschafft entfacht und der Wandel in der Gesellschaft der DDR begleitet werden. 1964 machte eine Folgekonferenz den "Bitterfelder Weg" zur aktuellen Kulturpolitik. Abkommandiert in die Produktion fühlten sich die Schriftsteller damals aber keineswegs.

Intellektuelle in die Produktion

Engler: "Dann kamen die da an, in den Tagebüchern von Brigitte Reimann kann man das gut sehen, und machten, wenn man helle war, das, was man dann tut. Man guckt, wer ist da noch? Dann sind sie in den Betrieben mit Ökonomen, mit Ingenieuren, mit Produktions- und Werkdirektoren, oder im weiteren der Stadt mit Kommunalpolitikern, mit Städteplanern, mit Architekten und bilden Diskussionskreise, in denen die Leute mal nachdenken, wie könnte Sozialismus denn noch funktionieren. Ich glaube, so intensiv und so genre- und funktionsübergreifend wie in den Jahren '62 bis '65 ist nie wieder debattiert worden in der DDR."
Der Autor Werner Bräunig gehört zu den Initiatoren der Bitterfelder Konferenz, auf der die neue Kulturpolitik formuliert wurde. Kurz vor dem 11. Plenum 1965 hat die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, NDL, ein Kapitel aus seinem unveröffentlichten Manuskript "Rummelplatz" abgedruckt. Kaum ein Redebeitrag auf dem Plenum, der nicht über Bräunigs im Uranabbau der Wismut angesiedelten Roman herfällt. "Rüpelhaft", "obszön", "pornografisch", schlicht "antisozialistisch" sei dieser Roman, so das einhellige Urteil. Nur Christa Wolf springt dem angegriffenen Kollegen öffentlich bei - doch niemand hört ihr zu:
"Ich bin in einem Punkt in einem wirklichen Konflikt, den ich nicht lösen kann. Ich bin nicht einverstanden mit der kritischen Einschätzung an dem Auszug von Werner Bräunig in der NDL, weil ich glaube und weiß, erstens, dass Werner Bräunig dieses Buch nicht geschrieben hat, weil er im Westen verkauft werden will. Das halte ich für eine haltlose Verdächtigung, die nicht angebracht ist, einem Schriftsteller gegenüber, der dafür keinerlei Handhabe geliefert hat. Zweitens, es ist kein Wismut-Roman, als was er gilt. Meiner Ansicht nach zeugen auch diese Auszüge in der NDL nicht von antisozialistischer Haltung, die ihm vorgeworfen wird, und in diesem Punkt kann ich mich leider nicht einverstanden erklären. Ich kann es nicht, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, ich glaube es nicht und ich weiß, dass es nicht so ist und das möchte ich hier sagen. Darum unter anderem spreche ich, weil es unehrlich wäre, wenn ich das verschweigen würde."
Löser: "Man muss da auch vorsichtig sein, wenn man diese Tondokumente heute hört. Weil es lässt sich ja nur schwer vergegenwärtigen, unter welchem Druck die Leute damals wirklich standen. Christa Wolf war im ZK, sie war Kandidatin im ZK, sie stand dort in einem äußerst aggressiv aufgeladenen Biotop als eine der ganz, ganz wenigen Frauen, und ich glaube, das hört man auch an diesem Tondokument, wie auf welchem dünnen Eis sie sich da bewegt."
Für Werner Bräunig bedeutete das 11. Plenum das Ende seiner öffentlichen Schriftstellerkarriere, sein Roman "Rummelplatz" ist erst 2007 posthum erschienen. 1965 ist Christa Wolf die einzige, die vorsichtig formulierend den Widerspruch wagt. Die anderen Künstlerkollegen schweigen. Zu massiv ist offenbar die Drohkulisse, die von der Partei aufgebaut wurde, und zu abhängig fühlen sich die Künstler: Parteimitglieder sind viele, Mitglieder in Berufsverbänden sind sie alle. Nur die Mitgliedschaft in einem dieser Verbände sichert Aufträge, Veröffentlichungs- oder Auftrittsmöglichkeit, soziale Absicherung.
"Aber ein Vorhang ist hinter mir gefallen. Ein Zurück in das Land vor diesem Vorhang, ein harmloses Land, gibt es nicht mehr.
Ahnte ich, dass es diesmal darum ging, in die Wirklichkeit gestoßen zu werden? Von Anfang an dieses schmerzhafte, angespannte Gefühl. Das Gift, das ich fast bewusst zu mir nahm. Jetzt vertrage ich keinen Tropfen mehr davon. Jede Pose ist von mir abgefallen. Zu denken, dass immer neue Wirklichkeiten hinter dieser sind.
Die Wände um uns rücken enger zusammen. Doch in der Tiefe, zeigt sich, ist zu viel Raum."

Ende der Zuversicht

Mit dem 11. Plenum schwindet auch für Christa Wolf die letzte Zuversicht. Mit der Partei ist eine Reform nicht zu machen. Im Dezember 1965 ist dieses Kapitel für sie abgeschlossen.
Engler: "Das heißt, es ist ein enormer Akt der Entmutigung, eine Machtdemonstration, die allen sagt, ok, wir sind ja gar nicht gefragt. Man will gar keine öffentliche Debatte, man will keine Diskussion über unterschiedliche Wege, im Gegenteil. Da schlägt es zu und das hat sich dann teilweise auch im Sinne eines Rückzugs der Kultur schaffenden Intellektuellen aus diesen Zusammenhängen entwickelt. Eine Isolation in gewisser Weise, man redet noch miteinander, aber nicht mehr mit den anderen, mit den Mehrheiten, das, finde ich, ist der Haupteffekt, der nach '65 eingetreten ist."
Löser: "Es gibt ganz wenige Beispiele, die es dann hart und schwer getroffen hat wie Biermann. Sein Berufsverbot hat ja da seinen Anfang genommen oder eben Manfred Bieler, von Bräunig mal ganz abgesehen. Also das sind dann schon individuelle, sehr konkrete Auswirkungen, die da ihren Anfang nahmen. Aber ich denke, die große Emanzipation der DDR-Künstler und Intellektuellen hatte auch damit zu tun, dass es da eine neue Generation gab von Künstlern, die nicht an diese Sentimentalitäten des DDR-Gründungsmythos gebunden waren, mit diesem Antifaschismus und die schweren Aufbaujahre usw., was man ja immer noch rausliest bei Leuten wie Christa Wolf zum Beispiel."
Wolf Biermann wird zur Zielscheibe der Kritik auf dem 11. Plenum des ZK der SED. Er steht für die junge Künstlergeneration, eine, die sich von der Partei nichts mehr sagen lässt und eigene Wege geht. In der DDR wird er nicht verlegt, er darf nicht auftreten, wird schikaniert und veröffentlicht seine Texte in Westdeutschland. "Die Drahtharfe", 1965 gerade im Westberliner Wagenbach Verlag erschienen, erregt die ZK-Mitglieder besonders. Auch Biermann gehört zu denen, die jetzt kaltgestellt werden.
Zu sehen sind Wolf Biermann (l.) und Ralf Hirsch (r.) am Grenzbahnhof Friedrichstraße in Berlin. Ihnen wird die Einreise nach Ostberlin verweigert.
Der aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann wurde am 4. November 1989 am Grenzbahnhof Friedrichstraße die Einreise nach Ostberlin verweigert.© picture-alliance / dpa / Peter Kneffel

"Point of no Return"

Das 11. Plenum verhindert den Generationswechsel auf ganzer Linie. Es sind ausnahmslos die Jungen, die von den Maßnahmen betroffen sind, die Alten rücken zusammen und drehen die Uhr zurück.
In Westdeutschland beginnt sich zu dieser Zeit die Studentenbewegung zu formieren. Der Generationenkonflikt, der 1968 in vielen Staaten des Westens offen aufbricht, ist in der DDR nach dem ZK-Plenum 1965 schon im Ansatz gestoppt worden. Die Jungen gehen ihre eigenen Wege.
Engler: "Also, wenn man die Tagebuchnotizen von Einar Schleef liest, wie der so in den 60er-Jahren so durch den Prenzlauer Berg läuft, für den war das, glaube ich, nie ein Fall, Hoffnung auf das System zu projizieren."
Löser: "Die Generation der nach 1945 Geborenen hatte nicht mehr dieses Problem der unmittelbaren Staatsnähe, und das führt im Grunde dann erst dazu, dass es eine künstlerische Opposition gab, die es in den anderen sozialistischen Ländern schon lange gab, seit den Fünfzigern."
Engler: "'68 mit dem Einmarsch der Vertragsstaaten in die CSSR. Das haben auch die meisten, die Autobiografien geschrieben haben, als den 'Point of no Return' bezeichnet. Es rollen Panzer, wenn es wirklich ernst gemeint ist und Reformen entstehen, die auch politisch etwas bewirken sollen wie unter Dubcek. Es rollen Panzer! Die Sache ist durch. Wir müssen entweder überwintern oder gehen.
Wenn ich mich daran erinnere, an dieses Kölner Konzert von '76 erinnere, dann machte das irgendwie die Runde, wird es auch zur späteren Stunde in der ARD eine Ausstrahlung geben. Und das war dann auch relativ spät und in dem Haus, in dem ich wohnte, gingen dann auch ein paar Lichter an, man sah, die Leute verfolgen das jetzt bis Mitternacht, aber die meisten Fenster blieben auch dunkel.
Danach war es hier auch ein Thema. Aber interessant ist doch, wenn man sieht, was passierte dann: Dann gibt es die Unterschriftensammlungen von Schriftstellern, Filmemachern etc., die Ausbürgerung rückgängig zu machen, dann gibt es den Versuch der Parteiführung, die Leute zu bearbeiten, dann zogen es einige auch wirklich zurück, die meisten blieben aber dabei.
Es hatte aber keine Auswirkungen auf die große Mehrheit der Ostdeutschen, die fanden das nicht den Moment, wo sie hätten auf die Straße gehen sollen. Ich glaube, es gab null öffentliche Demonstrationen, außer halt die Aktionen der Künstler und Schriftsteller."

Viele gehen in den Westen

Die Partei reagiert 1976 zwangsläufig flexibel auf die zahlreichen Unterstützer des Protestbriefs gegen die Biermann-Ausbürgerung. Zwar werden die Unterzeichner Jurek Becker, Karl-Heinz Jakobs, Sarah Kirsch, Günter Kunert und Gerhard Wolf aus der SED ausgeschlossen und erhalten Stephan Hermlin und Christa Wolf Parteistrafen. Doch andere Künstler unter den Unterzeichnern bekommen jetzt einen Pass, der ihnen erlaubt, Engagements im Westen anzunehmen. Die Ausweisung hat schon zu viel Wirbel gemacht, zu viele in der DDR populäre Künstler, von Manfred Krug über Jutta Hoffmann bis zu Armin Mueller-Stahl, ziehen in der Folgezeit nach Westdeutschland.
Zwischen 1965 und 1976 hat sich die DDR verändert. Konnte 1965 noch eine Riege alter Männer die Künstler so einschüchtern, dass nur wenige sich trauten, offen zu widersprechen, gibt es jetzt eine Szene, die sich nicht mehr manipulieren lässt, weil sie die klassischen Distributionswege nicht nutzt, Orte bespielt, die sich dem direkten Einfluss entziehen, die ein Publikum anspricht, das jenseits der Parteiorganisationen lebt und die in der Folgezeit immer besser mit der Opposition vernetzt ist. Für die Bands beschreibt der Musikwissenschaftler Peter Wicke die Entwicklung so:
"Das hat sich massiv verändert, weil mit Beginn der 80er-Jahre, ganz massiv dann ab Mitte der 80er-Jahre, eine Generation von Musikern heranwuchs, die keinen Sinn mehr darin gesehen haben, irgendwelche Kompromisse einzugehen. Die verzichteten von vornherein auf dieses ganze staatliche System und machten einfach Musik und ließen es drauf ankommen, ob man sie verbietet oder nicht."
Engler: "Ich glaub, in der Szene verbietet sich das in den 80ern komplett von selbst. Das heißt, die hätten keine Zuhörer gefunden, wenn sie auch nur im Entferntesten darauf Wert gelegt hätten, also umgehend bei Amiga verlegt zu werden und sonst nicht aufzutreten."
Wicke: "Die waren nicht in den Medien, die wollten die Medien nicht, es gab dann also über Kassettenvertrieb die Alternativmedien. Die haben zwar nicht die große Rolle, wie in der Sowjetunion, nicht so ne große Rolle gespielt, aber es gab sie. Ja, was hätten sie dagegen machen sollen? Wie gesagt, alle verbieten und einsperren. Das ging nicht, also blühte das."
Bürger der DDR treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche.
Bürger der DDR treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche.© picture alliance / dpa

Die Partei guckt zu, die Stasi führt Protokoll

Ähnlich flexibel verhalten sich auch Schriftsteller und bildende Künstler. Ein Auftrittsverbot wegen fehlender Mitgliedschaft im Schriftstellerverband lässt sich umgehen, wenn ein befreundetes Verbandsmitglied den Kollegen zur eigenen Lesung oder Kunstausstellung einlädt. Viele Veranstaltungen sind disziplinübergreifend und zu Kunstausstellungen gehört Musik, da stört es nicht, wenn die Band keine Spielerlaubnis hat oder sich ein Künstler wie A.R. Penck gleich selbst hinter die Drums setzt. Die Stasi führt Protokoll, die Partei guckt zu - wenigstens meistens.
Wicke: "Das ist ein grundlegendes Prinzip dieser Gesellschaft ja gewesen, das sind die berühmten Nischen, aber eigentlich ist der Begriff nicht so ganz richtig. Weil Nischen würde ja bedeuten, das Ganze ist klar und festgefügt und dazwischen hat man dann eben Nischen, sondern diese Fluidität, die das Ganze hatte als Konsequenz eines Willkürsystems, was eben an jeder Stelle zuschlagen konnte und was das auch zur Herrschaftstechnik machte, weil das hatte natürlich zur Konsequenz, dass irgendwo schon immer so eine diffuse Angst da war, weil man nie kalkulieren konnte, wie weit man gehen kann, und das traf alle, es traf diejenigen, die zwangsläufig sehr dicht an den Apparaten waren wie Film und Medien, traf es ganz unmittelbar. Die Schriftsteller schon etwas weniger, weil die konnten ihre Bücher auch zu Hause schreiben, da mussten sie niemanden um Erlaubnis fragen, ob sie dann veröffentlicht wurden, war dann eine andere Frage und am wenigsten eigentlich die Prozesse, die so eine eigene soziale Dynamik hatten, denn da ging es ja nicht vordergründig darum, ob diese Musik existierte oder nicht, sie konnten ja nicht das ganze Publikum auch noch wegsperren. Das heißt, wenn sie die Band verboten haben, dann war das Publikum ja nicht weg, also hat diese Stelle der verbotenen Band alsbald ne andere eingenommen."
Engler: "Die Milieus waren als Milieus getrennt, was nicht heißt, dass nicht einzelne Figuren, die auch noch verlegt wurden, also die noch Stimme hatten in der DDR, auch Kontakte mit den anderen hatten, das gab es. Sozusagen Mentoren, Nestoren, die gefragt waren, die man dort auch für authentisch und integer genug hielt, also in den subkulturellen Szenen. Man weiß natürlich auch, dass da einige U-Boote darunter waren."

Auf Konfrontationskurs mit dem Staat

In der Kulturpolitik der DDR löste das 11. Plenum des ZK der SED tatsächlich einen Kahlschlag aus, von dem sich Film und Literatur nie wieder vollständig erholten. Doch in anderen Bereichen, in der Musik, Lyrik, bildenden Kunst sieht das ganz anders aus. Hier markieren die Beschlüsse vom Dezember 1965 den finalen Bruch. Ab hier setzt eine Entwicklung ein, die sich dem Einfluss der Partei immer stärker entzieht.
In der Kunst, in Malerei, Bildhauerei, Musik, selbst auf der Bühne leben gegenkultureller Geist, Lust an der Provokation und ironische Distanz auf: A.R. Penck, Lutz Dammbeck, Elke Erb, Frank Castorf, Rammstein, Connie Bauer. Andere Schriftsteller und Autoren wie Jürgen Fuchs und Roland Jahn suchen die offene Konfrontation mit dem Staat.
Die Gegenkultur wird wesentlicher Bestandteil einer Dynamik, die am Ende den Staat DDR wegfegt. Dass ausgerechnet die marode Wirtschaft entscheidend zum Untergang der DDR beiträgt, gehört zur besonderen Ironie der Geschichte: denn das 11. Plenum des ZK der SED hätte sich 1965 eigentlich um den Zustand der Wirtschaft und nötige Reformen kümmern sollen. Doch den harten Realitäten wichen Ulbricht und die Genossen aus, indem sie den Kulturkampf eröffneten. Und der hat dann maßgeblich zum inneren Zerfall des Systems beigetragen.