Darwins vergessener Helfer

Matthias Glaubrecht im Gespräch mit Frank Meyer · 06.11.2013
Den entscheidenden Hinweis auf seine Evolutionstheorie hat Darwin wohl von dem britischen Abenteurer und Naturforscher Alfred Russel Wallace bekommen. Warum dieser im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten ist, erklärt der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht.
Frank Meyer: Das ist die übelste Fälschungsaffäre der Biologiegeschichte, so sehen einige Forscher den Fall Darwin/Wallace. Bei dem Fall geht es um eine der modernen Theorien, die Evolutionstheorie, von der wir ja heute denken, Charles Darwin hätte sie entwickelt. Aber womöglich hat sich Darwin kräftig bei den Ideen seines Kollegen Alfred Russel Wallace bedient. Morgen ist der 100. Todestag dieses Forschers, der ein ungemein interessanter Typ gewesen sein muss. Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht hat ein Buch über Alfred Russel Wallace geschrieben. Herr Glaubrecht, seien Sie herzlich willkommen!

Matthias Glaubrecht: Ja, herzlichen Dank.

Meyer: Der Wallace, der muss nicht nur Forscher, sondern auch Abenteurer gewesen sein. Er hat sich jahrelang alleine am Amazonas herumgetrieben, um die Natur dort zu erforschen, nur mal so als Beispiel. Wie abenteuerlich war denn der Charakter dieses Mannes?

Glaubrecht: Er muss wirklich ein Abenteurer gewesen sein, und ich glaube, es ist nicht falsch, wenn wir uns den so als eine Art Indiana Jones des viktorianischen Zeitalters vorstellen. Denn auf der einen Seite hat er sehr theoretisch gearbeitet, er hat Artikel geschrieben, die also einen sehr hohen akademischen Anspruch durchaus hatten, aber er war gleichzeitig jemand, der ins Gelände gegangen ist, der also wirklich auf jahrelangen Expeditionen in Kanus und auf kleinen Draus unterwegs gewesen ist und viele Naturobjekte zurückgebracht hat. Aus dem Malaiischen Archipel allein waren das über 125.000 Naturobjekte, das füllt eigentlich so ein kleines Naturkundemuseum schon für sich alleine.

Meyer: Und er muss ein zäher Hund gewesen sein, dieser Alfred Russel Wallace, denn diese erste Amazonas-Expedition, die ich angesprochen habe, die endete in einem Desaster. Er war unterwegs nach Hause, nach vier Jahren schwerster Forschungsarbeit da im Dschungel, dann fängt sein Schiff Feuer, das Schiff versinkt mit ihm, alle seine Sammlungen, ein Großteil seiner Aufzeichnungen, das Ergebnis von vier Jahren Arbeit ist futsch! Wie hat der Mann das geschafft, danach weiterzumachen?

Glaubrecht: Ja, das war wirklich fatal, weil er von unterwegs aus, aus dem Amazonas tatsächlich einen Teil seiner Sammlung vorausgeschickt hatte, aber der Zoll im damaligen Brasilien hat ihn aufgehalten, sodass dann nachher wirklich alles, was er in vier Jahren gesammelt hatte, mit ihm auf dem Schiff war. Und dann fing die Ladung Feuer und das Schiff ist letztendlich untergegangen. Und das war natürlich tragisch, gerade weil er damit also seinen Lebensunterhalt verdienen wollte.

Er war ja in erster Linie Naturaliensammler, der durch den Verkauf dieser Naturobjekte tatsächlich leben wollte. Vielleicht muss man auch sagen, es war unser Glück, denn wenn das eine erfolgreiche Expedition gewesen wäre, hätte er sich vielleicht so wie Darwin nach seiner Beagle-Weltumsegelung zur Ruhe gesetzt und wir wären eigentlich um die spannendste Episode in der Biologiegeschichte gekommen, denn er ist danach eben noch mal acht Jahre in den Malaiischen Archipel aufgebrochen, eben weil er noch mal neu sammeln musste.

Meyer: Apropos Darwin, Herr Glaubrecht, damit sind wir beim Krimiteil dieser Geschichte, die Frage, wer hat eigentlich die Evolutionstheorie begründet, Darwin oder zu wesentlichen Teilen auch dieser Alfred Russel Wallace? Da steht im Zentrum dieser Frage ein Aufsatz zur Evolutionstheorie, den Wallace geschrieben hat. Was ist die Geschichte dieses entscheidenden Aufsatzes?

Glaubrecht: Man muss ganz klar sagen, dieser Aufsatz spielt wirklich eine zentrale Rolle. Aber vorausgeschickt sei, Darwin hat seine Theorie tatsächlich 14 Jahre vor Wallace entwickelt, er ist zufällig auch 14 Jahre älter. Wir wissen durch die Aufzeichnungen und Dokumente, dass Darwin seine Theorie in einem Stufenprozess immer weiterentwickelt hat, aber es fehlte ihm so ein ganz kleines Mosaiksteinchen.

Und er hatte zwar dieselbe Idee, aber er liest offensichtlich, nach unseren Rekonstruktionen heute, er liest in dem Manuskript von Alfred Russel Wallace, der während eines Malariaanfalls in einer Palmenwedel gedeckten Hütte ganz weit ab im Archipel am anderen Ende der Erde auf dieselbe Idee gekommen ist … Das schickt er ausgerechnet an den Darwin, weil er weiß, dass der ebenfalls an diesen Fragen interessiert ist, und Darwin liest dieses Manuskript.

Und er ist uns gegenüber, also der Nachwelt, nicht ganz ehrlich in der Darstellung dessen, wie er also an dieses Manuskript herangekommen ist und wie lange er dann auch noch gebraucht hat, sein eigenes Manuskript zu verbessern. Letztendlich kommt es dann zur gemeinsamen Vorstellung dieser beiden Auszüge aus Darwins Texten und dieses Manuskriptes von Wallace, und das Erstaunliche ist, dass wir jetzt fast 150 Jahre später erst diese Zusammenhänge so deutlich rekonstruieren können, dass wir auch Darwins Rolle in einem anderen Licht sehen.

Meyer: Aber jetzt, um noch mal Klartext zu reden: Hat Darwin Wallace jetzt beklaut?

Glaubrecht: Er konnte ihn gar nicht beklauen, weil er die Idee vorher hatte. Er hat aber einen Teil seiner Idee präzisiert, nachdem er Wallace Manuskript gelesen hat. Er war also insofern nicht ehrlich, weil er nicht wirklich gesagt hat, der Wallace hat da auch was dazu beigetragen. Allerdings muss man sagen, das ist dann auch ein bisschen noch die Legendenbildung des 20. Jahrhunderts. Bis zu Wallace’ Tod vor 100 Jahren hat man von der Darwin-Wallace-Theorie gesprochen und es war dann letztendlich Wallace, der mit einem Essayband, dem er den Titel "Darwinism", "Darwinismus" gegeben hat, es war also Wallace, der dann auch dazu beigetragen hat, dass wir so im 20. Jahrhundert eigentlich immer mehr von Darwin erfahren, immer mehr über Darwin wissen und er im Zentrum steht, und der Wallace so an den Rand gedrängt wird, sodass das jetzt wirklich eine Wiederentdeckung ist zu sehen, was Wallace da eigentlich für eine Rolle gespielt hat.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über den britischen Abenteurer und Naturforscher Alfred Russel Wallace mit dem Wallace-Spezialisten und Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht. Herr Glaubrecht, dass der Wallace auch so ein bisschen aus dem Zentrum der biologischen Erinnerung gerückt ist, um es mal so zu sagen, vielleicht hat das auch zu tun mit einer anderen Seite seines Lebens: Er hat sich dann erstaunlicherweise auch öffentlich zum Spiritualismus bekannt, also zum Glauben an das Übernatürliche, was ja für einen ausgewiesenen Naturforscher schon ein seltsamer Zug ist. Wie erklären Sie sich diese Kombination bei ihm?

Glaubrecht: Ja, das ist wirklich fast so, als ob wir zweimal den Wallace vor uns haben. Auf der einen Seite also den sehr rationalen Wissenschaftler, der hier eine neue Theorie mit seherischer Intuition auch vorstellt und sie auch vehement verteidigt, also diese Idee, dass der Artenwandel, die Evolution durch das Einwirken natürlicher Prozesse, von Ausleseprozessen vor allen Dingen funktioniert, und dann ist da der Wallace, der nicht nur Spiritist ist, das heißt, er glaubt also nicht nur an die Möglichkeit, mit dem Geist Verstorbener kommunizieren zu können, sondern er ist tatsächlich auch als überzeugter Spiritualist davon überzeugt, dass es also irgendein höheres Wesen geben muss, außerhalb, abseits der normalen Konfessionen und er Religionen.

Und das ist etwas, was wir erklären können aus dem 19. Jahrhundert, wo man nebeneinander sehr viele dieser Erklärungsmöglichkeiten hat stehen, sehr viele andere Zeitgenossen von Wallace, von Darwin, auch berühmte Wissenschaftler waren ebenfalls diesem Spiritualismus sehr zugeneigt, nur, sie haben es nicht so öffentlich herausgetragen. Wallace schreibt auch noch Bücher darüber, sodass er doch sehr skeptisch beäugt worden ist von seinen Zeitgenossen. Aber das hat sicherlich eher bei den damaligen Zeitgenossen im viktorianischen Zeitalter eine Rolle gespielt, er ist letztendlich im 20. Jahrhundert eigentlich unerklärlicherweise in Vergessenheit geraten.

Meyer: Dann lassen Sie uns etwas dagegen tun. Also, vom Spiritualismus mal abgesehen, was sind denn seine bedeutenden Leistungen für die Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert?

Glaubrecht: Wir würden auch über ihn sprechen allein schon durch die ungeheuer großen Sammlungen, die er mitgebracht hat, vor allen Dingen aus dem Malaiischen Archipel. Er ist dann aber auch neben der Tatsache, dass er neben Darwin der Mitentdecker der Evolutionstheorie, also des Selektionsprinzips ist, ist er vor allen Dingen eigentlich der Begründer der Biogeografie, also einer Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Verbreitung und dem Vorkommen von Tieren und Pflanzen beschäftigt, und da gilt er eigentlich als der Vater der Biogeografie. Und wir haben ganzen Faunenregionen und eine ganz markante Faunenscheide zwischen Asien und Australien, die heute seinen Namen tragen. Also, wir sollten eigentlich auch ohne den Wettlauf um die Evolution und ohne diesen Vorwurf, Darwin hätte ihn beklaut, würden wir eigentlich diesen Naturforscher zu einem der großen Heroen und der Titanen der Naturforschung neben Darwin und Humboldt eigentlich rechnen müssen.

Meyer: Morgen ist der 100. Todestag dieses britischen Naturforschers Alfred Russel Wallace. Wir haben mit Matthias Glaubrecht über ihn gesprochen, sein Buch heißt "Am Ende des Archipels. Alfred Russel Wallace", das ist in diesem Jahr im Galiani-Verlag erschienen. Herr Glaubrecht, besten Dank für das Gespräch!

Glaubrecht: Sehr gerne, vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.