Darwins Schildkröte, Derridas Katze

Tiere sehen uns an

05:23 Minuten
Porträt der Schildkröte Lonesome George.
"Lonesome George" starb 2012 - als vermeintlich letzter seiner Art. Jetzt hat man auf den Galapagosinseln doch noch ein Weibchen seiner Spezies gefunden. © Getty Images / Collart Hervé
Von David Lauer · 09.02.2020
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Warum redet die Philosophie so häufig die Denk- und Empfindungsfähigkeit von Tieren klein? Der Philosoph Jacques Derrida - und mit ihm unser Kommentator David Lauer - sieht darin eine Strategie, die Grausamkeiten zu legitimieren, die wir Tieren antun.
Der Philosoph Jacques Derrida hat einmal die verstörende Erfahrung beschrieben, wie es ist, sich unerwartet von einem Tier beobachtet zu finden. Im konkreten Fall ging es um seine Katze, die ihn nackt im Badezimmer überraschte. Leicht geniert gestand sich Derrida ein, dass er sich vor der Katze schämte - und zugleich schämte er sich dieser Scham.

Wer bin ich in den Augen meiner Katze?

Katzen, die auf Männer starren: Aus dieser eher kuriosen Begebenheit entwickelt Derrida eine fundamentale Infragestellung der üblichen Denkfiguren, mit denen sich der Mensch von anderen Tieren abgrenzt. "Das Tier schaut uns an, und wir stehen nackt vor ihm. Und vielleicht fängt das Denken an genau dieser Stelle an", schreibt Derrida. Der letzte Satz ist eine offenkundige Anspielung auf Sartres Theorie des Selbstbewusstseins.
Für Sartre erlangt der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst durch die existenzielle Erfahrung, von einem Anderen angeblickt zu werden. Indem mich der Blick des Anderen trifft, wird mir die Gegenwart eines fremden Bewusstseins klar und zugleich meine körperliche Gegenwart für den Anderen. Ich erkenne, dass ich im Blick des Anderen ein Objekt bin oder – wie Sartre sagt – ein Stück Natur. Und die Reaktion auf dieses Ausgeliefertsein an den Blick des Anderen ist auch hier das Gefühl der Scham: "Der Andere besitzt ein Geheimnis (…) dessen, was ich bin", schreibt Sartre.

Mitverantwortung für andere Spezies

Im Grunde will Derrida darauf aufmerksam machen, dass sich diese Erfahrung in ziemlich abgründiger Weise auch am Blick eines Tieres machen lässt – wenn man sie denn zulässt. Hier ist ein Bewusstsein – eine fühlende, sich auf mich richtende Intentionalität, für die ich da bin und die ganz sicher auch auf irgendeine Weise empfindet, dass sie für mich da ist, und für die das angenehm oder unangenehm ist. Das lehrt mich der Blick, der auf mir ruht. Derrida ist der Auffassung, dass uns dieses Verhältnis aus sich selbst heraus in eine ethische Beziehung zu Tieren stellt.
Natürlich ist diese Beziehung asymmetrisch. Es geht nicht darum, abzustreiten, dass ein konstitutiver Unterschied besteht zwischen Tieren, die sich ihrer eigenen Tierheit und damit auch ihrer Sterblichkeit reflexiv bewusst werden, und solchen Tieren, die das nicht tun. Insbesondere gibt es ethische Beziehungen nur in einer Welt, in der Tiere der ersten Art vorkommen. Aber daraus folgt nicht, dass solche Beziehungen nicht auch Tiere der zweiten Art umfassen können. Dass diese nicht selbst ethische Akteure sind, verstärkt in gewisser Weise nur die Verantwortlichkeit, die sie uns auferlegen.
David Lauer steht für ein Porträt-Bild vor einem grauen Hintergrund.
Niemand entgeht dem Blick der Tiere: David Lauer.© © Fotostudio Neukölln / Gunnar Bernskötter
In Derridas Augen sind die kontinuierlichen Bemühungen der Philosophie, die Empfindungs- und Denkfähigkeiten von Tieren kleinzureden oder abzustreiten, nichts als der fortgesetzte Versuch, sich aus dieser ethischen Verantwortung davonzustehlen und die – Achtung, Ironie! – bestialischen Dinge zu legitimieren, die wir Tieren antun. Wie zum Beispiel, ihre gesamte Spezies auszurotten, einfach so, aus keinem besonderen Grund.

Etwas hat überlebt - und lässt uns erröten

Was mich nun endlich zu "Lonesome George" und den Galapagos-Schildkröten bringt. Die Ehrfurcht und Zuwendung, die man den letzten Exemplaren zum Aussterben verurteilter Spezies' entgegenbringt, der Jubel anlässlich der Entdeckung, dass irgendwo im Verborgenen doch noch Bestände überlebt haben – es ist schwer, darin nicht in erster Linie das schlechte Gewissen zu vernehmen, eine schuldbeladene Ausgeburt der Scham, von der Sartre und Derrida sprechen.
Sie geht aus der nicht vollständig verdrängbaren Frage hervor, welches Bild unserer selbst aus dem Blick dieser Tiere spricht. Wir wollen den Nachfahren von Lonesome George eines Tages wieder in die Augen schauen können. Eine neue Chance dazu haben wir nun.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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