Darf so viel Verdrängung sein?

Von Konrad Adam · 26.03.2010
Das Dilemma der Schule: Schonraum und Übungsraum zugleich zu sein, die Kinder auf das Leben vorbereiten und gleichzeitig vor seiner Härte bewahren zu müssen, ist uralt. Durch ein neues, ganzheitlich genanntes Erziehungskonzept sollte dieser Gegensatz überwunden, zumindest aber doch ermäßigt werden.
Die passende Umgebung dafür schien den Reformern nicht die Stadt, sondern das Land zu sein, wo sich dann auch die meisten dieser Landerziehungsheime angesiedelt haben. Raus in die Natur und rein ins Leben, hieß ihre eigenwillige, nur scheinbar widersprüchliche Parole.

An einer dieser Landerziehungsanstalten, der Odenwaldschule in Hessen, scheint die Vorbereitung aufs Leben die Bekanntschaft mit Praktiken eingeschlossen zu haben, vor denen die meisten Eltern ihre Kinder aus guten Gründen bewahren wollen, sexuelle Spielereien nämlich in allen möglichen Varianten. Die Vorkommnisse waren seit Langem bekannt, aber die Schule und ihre Dachorganisation, der Verband der Landerziehungsheime, wollten die Dinge unter der Decke halten. Auf Klagen und Beschwerden reagierten sie mit der Auskunft, dass sie zu ihren Leuten mehr Vertrauen hätten als zu den Kindern, den Eltern und den Journalisten.

Einer von diesen Leuten war Hartmut von Hentig, der über Jahre und Jahrzehnte als pädagogische Leitinstanz betrachtet wurde. Er hat davon berichtet, was unter Ganzheitlichkeit, Lebensnähe und Erfahrungslernen zu verstehen ist. Zu dritt seien sie nach Griechenland gefahren: er selbst, sein Freund und Lebensgefährte Gerold Becker, sowie ein zehnjähriger Knabe. Auf dieser Reise habe er den pädagogischen Eros seines Freundes schätzen, bewundern und beneiden gelernt. Während er selbst nie mehr als das Nötige getan habe, habe Becker das Richtige getan - was immer darunter zu verstehen sein mag.

Was soll man zu solchen Erfahrungen sagen? Dass sie neu und ungewöhnlich seien? Ungewöhnlich vielleicht, aber neu gewiss nicht. Die Dreier-Gesellschaft neigt dazu, sich zu zerteilen und Situationen herbeizuführen, in denen Zwei gegen Einen stehen. Also lieber nicht zu dritt! Und schon gar nicht in einer Zusammensetzung, in der zwei ehrgeizige und eifersüchtige Pädagogen um die Gunst des Dritten, eines minderjährigen Kindes buhlen.

Den Einwand würde Hentig wohl nicht gelten lassen. Er würde es machen wie alle klugen Leute, sich also nicht auf seine Erfahrung berufen, sondern auf seine Wissenschaft, die Pädagogik - wenn die denn eine wäre. Das ist sie aber nicht. Die pädagogischen Gesetze, von denen die zur Erziehungswissenschaft aufgemöbelte Pädagogik träumt, gibt es nicht. Was es gibt, sind Erfahrungen, und die sehen bei Eltern, die mit ihren Kindern keine Experimente anstellen wollen, offenbar anders aus als bei Pädagogen, die eine sogenannte Laborschule betreiben.

Solange man unbefangen ist, wird man sich nichts dabei denken, es vielleicht sogar gern hören, wenn Hentig von seinen Schülern als seinen Freunden spricht und hinzufügt, dass ihn mit diesen Freunden viel verbindet, dass er von ihnen allerdings auch viel verlangt. Aber kann man nach dem, was er zu den Erziehungspraktiken an der Odenwaldschule sagt - oder besser: nicht sagt - noch unbefangen sein?

Es ist bedauerlich und unverständlich, dass Hentig Dinge verteidigt, an denen es nichts zu verteidigen gibt. Dass er sich im Kampf gegen die übermächtige und übermütige Kultusbürokratie Verdienste erworben hat, wird ja auch derjenige nicht bestreiten, der seinen Ansichten und seiner Arbeit skeptisch gegenübersteht. Angesichts der massiven Vorwürfe, die gegen die Praxis einer ganzheitlich genannten Pädagogik laut geworden sind, stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, wem die Loyalität des Erziehers gehört, den Kindern oder seinem Freund. Der große Pädagoge Hartmut von Hentig hat sich für seinen Freund entschieden.

Konrad Adam, Journalist und Autor, wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", arbeitete dann für die "Welt" und für die "FAZ". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".