"Dann wählt mal schön"

Rezensiert von Claus Leggewie |
Der Bundeskanzler hat mit seinem Neuwahlcoup nicht nur den Bundespräsidenten und das Verfassungsgericht in die Bredouille gebracht, sondern auch Verlage und Autoren, die sich auf Wahlen erst im Herbst 2006 eingestellt hatten. Nun müssen sie ihre Einsichten dem ebenso überraschten Volk in aller Eile zur Kenntnis bringen, was die Qualität des politischen Journalismus nicht in allen Fällen fördert.
Wolfgang Herles, Moderator des ZDF-Kulturmagazins "Aspekte", meldet sich mit einer Polemik zu Wort, die sein Image als Verkünder unbequemer Wahrheiten stärken soll.

Der Obertitel seines jüngsten Buches "Dann wählt mal schön" ist ein Zitat aus vordemokratischen Zeiten, als Monarchen dem auf die Barrikaden gegangenen Volk generös ein Stück Souveränität zubilligten. Herles ist spürbar unzufrieden mit Gerhard Schröders quasi-monarchischer Parlamentsauflösung, und auf den 18. September (wenn es denn der Wahltag sein wird) freut er sich ganz und gar nicht:

"Es sieht ganz danach aus, als würde kein denkbares Ergebnis der bevorstehenden Bundestagwahlen eine Lösung der wachsenden Probleme bieten. "

Alle Parteien bekommen da ihr Fett weg, nur die neuen Revolutionsführer Lafontaine & Gysi nicht - sie starteten erst nach Redaktionsschluss. Herles’ Helden sind unangepasste Politikertypen wie Hermann Scheer, Oswald Metzger oder Horst Seehofer. Aber das Buch ist, anders als es die Verlagswerbung suggeriert, keine übliche Politikerschelte. Es schilt uns, die Wähler und ruft dazu auf, Lethargie und Erwartungshaltung aufzugeben:

"Parteien, die nicht in der Lage sind, echte Alternativen zu bieten, und ein Volk, das der politischen Ordnung nicht mehr zutraut, dass die Dinge geregelt werden können, sind ein Risiko für die Demokratie. Die Dinge selbst könnten unregelbar geworden sein. Auch wenn das Volk seine Politiker überfordert, leidet die demokratische Substanz des Landes."

Acht schlanke, nicht immer zu Ende komponierte Kapitel hat das Buch. Herles befürchtet einen Übergang von der Politiker- zur Demokratieverdrossenheit, was alte antidemokratische Traditionen in der deutschen Geschichte wiederbelebt. Er kritisiert die Führungsschwäche und den Geschlossenheitskult der Parteien, die Abdankung vor der politischen Korrektheit. Er geißelt die Entmachtung der Parlamente und die Parteien, die Macht akkumulieren, sie aber nicht für mutige Entscheidungen einsetzen. Er widmet sich dem Elend des Populismus, der die Komplexität globaler Probleme herunterspielt und dem Volk ganz ungut aufs Maul schaut. Er spießt Fehlhandlungen der politischen Eliten auf, misstraut aber auch dem populären Ärger über Nebentätigkeiten, Parteispenden und angeblich zu hohe Diäten, Pensionen und Privilegien. Am meisten ärgert Herles das Verzagen der Demokraten selbst, die in naiver Erwartung das Heil von den viel gescholtenen Politikern erwarten und nur Reformen unterstützen, die ihnen selbst auf keinen Fall wehtun. Dabei nimmt er auch die "Arroganz der Wirtschaftseliten" und das "Abtauchen der Intellektuellen" ins Visier.

Das Buch ist also ein Rundumschlag, ohne große Recherche und Originalität – die besten Sätze sind Zitate anderer Autoren. Herles verbindet Lesefrüchte aus diversen Neuerscheinungen zu einem Plädoyer für Bürgersinn, ohne dem Lesepublikum, das ihm vermutlich in vielen Punkten beipflichten wird, einmal konkret zu verraten, wie es den beschworenen Aktivbürger geben kann.
Aber gelegentlich rutscht der Autor selbst auf Stammtischniveau ab, wenn er beispielsweise jammert:

"Quertreiber die sich als Umweltschützer aufspielen, bekommen vor Gericht auch noch Recht. Sie jammern über Arbeitslosigkeit, beklagen den Stillstand im Land, gefährden aber selbst Tausende von Arbeitsplätzen, weil sie die Maßstäbe verlieren. Ein paar hundert Kamm-Molche sind ihnen wichtiger als die Wohlfahrt einer ganzen Region. So verzögern sie den Bau der Autobahn von Kassel nach Gießen. Die Liebe einiger Menschen zum Feldhamster verhindert den Bau eines hochmodernen Braunkohlekraftwerks am Niederrhein. Der Einsatz für einige Exemplare der Großtrappe, eines kranichartigen Vogels in Brandenburg, kostet die Bundesbahn Abermillionen für Erdwälle beiderseits der neuen Strecke Berlin-Hannover, die stolze Hauptstadt wird auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch keinen Großflughafen haben, weil Hausbesitzern der Lärm missfällt. Bürger bedrohen auch die dringende Erweiterung des Frankfurter Flughafens und den Ausbau des Main-Donau-Kanals in Niederbayern. Und nur mit Müh und Not und sanfter Gewalt konnte eine Handvoll Apfelbauern davon abgehalten werden, die Airbuswerft in Hamburg zu verhindern. Wer hat eigentlich so blödsinnige Vorschriften wie die EU-Richtlinien Fauna-Flora-Habitat veranlasst, auf die sich so viele berufen?"

So pauschal kann man umwelt- und verkehrspolitische Bedenken nicht karikieren, und noch mehr stören Sentenzen wie die folgende:

"Gründe, das Volk für blöd zu halten, gibt es genug. Und weil es so dumm ist, hopst es populistischen Parolen auf den Leim."

Mit derart kernigen Sätzen wird der Kritiker Herles glatt zum Bestandteil des von ihm kritisierten Syndroms. Noch ein Beispiel:

"Die Parlamente sind heute der Ort, an welchem die Verkommenheit der Demokratie inspiziert werden kann."

Das könnte der NPD-Vorsitzende genauso ausdrücken, und es ist genau das Niveau der politischen Talkshows, die Herles zu Recht aufs Korn nimmt:

"Die Medien wären durchaus in der Lage, die Neigung der Parteichefs, sich mit unterwürfigen Vasallen zu umgeben, zu konterkarieren. Niemand zwingt die Talkshowredaktionen dazu, immer wieder dieselben Langweiler einzuladen, nur weil sie in Amt und Würden stehen, im falsch verstandenen Quotenwahn gilt nur Prominenz. Ein Irrtum, denn manch weniger Prominente brächten nicht nur interessantere Argumente, sondern auch unterhaltsamere Streitgespräche zustande."

Diesen demokratieschädlichen Betrieb kennt Herles aus täglicher Anschauung, und der geneigte Leser hätte bei einer Generalabrechnung wie dieser gerne mehr aus gut informierter Quelle auch über die, pardon, Verkommenheit des Medienbetriebs gewusst, die den Populismus von unten und oben befeuert. Dazu gehören vermeintlich prägnante Wortbildungen. Herles’ Schlusskapitel heißt, Schirrmacher lässt grüßen, der "Moses-Komplex", womit der Verfasser das Murren des Volkes im Alten Testament zur politischen Konsumhaltung von heute aktualisiert:

"Lieber maulen als anpacken. Die Regierung soll gefälligst Manna regnen und Wasser aus Felsen springen lassen und die Wogen der Weltmeere so teilen, dass das Volk trockenen Fußes den globalen Gefahren entkommt. Jemand soll gefälligst Wunder wirken! Und wenn dieses Wunder ein klein wenig beschränkter ausfallen sollte als erträumt (Manna statt Gänsebraten, Wasser statt Wein), geht es mit dem Murren erst richtig los. Populisten wie Aaron machen den Fehler, Wunder auch noch zu versprechen."

Ein ebensolches Wunder verspricht uns allerdings auch Wolfgang Herles:

"Jetzt sollten nicht nur Parteien ausgewechselt, sondern die ganze politische Kultur muss erneuert werden."

Und weil er daran selbst nicht glauben kann, spielt er die Kassandra:

"Die Wahl ist diesmal so überaus wichtig, weil sie die letzte, die wirklich letzte Chance ist, die Demokratieverdrossenheit zu stoppen, den Wählern Vertrauen in die Politik und das politische System zurückzugeben. Sollte dieser Versuch erneut scheitern, sollte sich erweisen, dass auch diese Wahl sinnlos gewesen ist- dann allerdings steht die Demokratie in Deutschland selbst vor der Zerreißprobe. Dann wird der Vertrauensverlust so groß sein, dass die Parteien am rechten und linken Rand erstarken. Dann werden SPD und Union ihre Rolle als Volksparteien erst einmal ausgespielt haben. Dann ist der Weg frei für Populisten, die sich der Demokratie nur noch formal bedienen. Dann entstehen tatsächlich vorrevolutionäre Verhältnisse."

Auf das politische Buch zur vorgezogenen Bundestagwahl müssen wir weiter warten. Gleichwohl: Hier schreibt einer, der sich ernsthaft Sorgen macht um den Zustand der politischen Kultur. Einmal spielt Herles mit einer unkonventionellen Idee:

"…wenn die vielen Millionen Nichtwähler, die es nicht aus Desinteresse an der Politik geworden sind, sondern eher aus Verzweiflung, nicht einfach nur wegblieben, sondern zur Wahl gingen und ihre Stimmzettel ungültig machten. Diesen Protest könnte die politische Kaste nicht einfach beiseite wischen."

In Frankreich gibt es diese Tradition des Protestes an der Wahlurne, wo man freilich nicht ungültig wählt (wie Dummköpfe, die Stimmzettel nicht lesen können), sondern ihn unausgefüllt, also "weiß" lässt - und damit eine erkenn- und messbare Nichtwähler-Partei wird. Das lässt sich schwer importieren, und Herles ist Realist genug, um dem Wähler am Ende, ähnlich wie der Soziologe Ulrich Beck in einem anderen Schnellschuss zur Wahl, eine abgeklärte Haltung anzuraten:

"Dann wählt mal schön, aber glaubt nicht an die Macht, glaubt nicht an den Markt, glaubt nicht an den Staat. Glaubt, wenn ihr denn unbedingt an etwas glauben wollt, an euch selbst. Dann ist die Enttäuschung am Ende nicht so groß."

Wolfgang Herles: Dann wählt mal schön
Wie wir unsere Demokratie ruinieren
Piper Verlag, München 2005