Dank an eine kleine Stadt

Von Robert B. Goldmann |
"Wieso kommen Sie so oft nach Deutschland?", fragte mich in meiner Geburtsstadt Reinheim in Hessen ein 15-jähriger Schüler. Er wusste, dass er mit einem 1939 aus Deutschland geflüchteten Juden sprach, denn er hatte viel über den Holocaust gelernt und konnte es nicht verstehen, dass wir nach all dem Geschehenen wieder nach Deutschland reisen.
Ich erklärte ihm, dass sich das Nachkriegsdeutschland sehr zum Besseren gewandelt habe, dass dies eine wichtigere Wende wäre, als die der Wiedervereinigung. Das führte dazu, dass ich als in Europa arbeitender Journalist und Vertreter einer gemeinnützigen jüdischen Organisation viele neue Freunde erwarb, die mir halfen, diese politisch und sozial neue, an die europäische Union angeschlossene Bundesrepublik zu verstehen. Ich weiß nicht, ob er mich verstand, und hatte das Gefühl, dass man im Bildungsbereich zögert, allzu positiv über das Vaterland zu sprechen, um dem Nationalismus, der sich in vergangenen Jahrzehnten als so katastrophal erwiesen hatte, vorzubeugen.

Reinheim ist in meiner Erfahrung das "Muschterstädle" des demokratischen Deutschlands des 21. Jahrhunderts. Ich habe auch in anderen deutschen Gemeinden diesen guten Willen bemerkt. Ab und zu hat man das Gefühl des allzu gewollten Willkommens des ehemals deutsch- "jüdischen" Bürgers. Andererseits liest man über die Gefahr des Wiederauflebens des Rechtsextremismus. Was fehlt, ist die unsensationelle gründliche Berichterstattung in den amerikanischen Medien.

Zurück zu Reinheim und dem ungemein fortschrittlichen Bürgermeister Karl Hartmann. Eines Tages nach unserer ersten Begegnung rief mich Karl - jetzt waren wir schon per Du - in New York an, um mir zu sagen, dass die Stadt ein neues Wohngebiet baue, und dass sich dort ein Altenheim und ein Kindergarten befinden würden. Eines wolle die Stadt nach meinem Vater benennen, und "sage mir, was Du vorziehst." Ich war bewegt von dieser schönen Geste, und entschied mich für den Kindergarten, da mein Vater die werdenden Mütter einer ganzen Generation in Reinheim und vier nahe gelegenen Dörfern -- heute eingemeindet--entbunden hatte. So gibt es jetzt den Dr. Jacob Goldmann Kindergarten, der Kindern dient, die wissen, warum ihre Schule diesen Namen trägt.

Nach weniger als zwei Jahren rief Karl wieder an und berichtete, die Stadt hätte eine beträchtliche Summe des für das fürs neue Wohngebiet vorgesehenen Budgets eingespart, und wolle mit dem Ertrag des angelegten Geldes ein jährliches Stipendium zugunsten der Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus verleihen. Aufgrund meiner langjährigen Arbeit in diesem Bereich sollte es das "Robert Goldmann Stipendium" heißen, und ich hätte des Vorschlagsrecht.

So habe ich das Stipendium dieses Jahr zum neunten Mal verliehen - abwechselnd an deutsche und amerikanische Historiker, Journalisten und gemeinnützige Organisationen - vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin bis hin zu Uwe-Karsten Heyes "Gesicht Zeigen", die sich der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet. Das Stipendium kann stets nur einen kleinen Teil eines Programms finanzieren, und dieser Bereich wird in der Vorbereitung so klar wie möglich identifiziert.

Wohl mag Reinheim unter Karl Hartmanns ideenreicher Leitung und seiner verständnisvollen Stadtverordneten einer im Sinne des Stipendiums lebendigen Erinnerung vorbildlich sein, aber wie ich von anderen Zeit- und Schicksalszeugen erfahren habe, haben auch viele andere Städte und Gemeinden das Gedenken an die Zeit des Schreckens verständnisvoll wach gehalten.

So war es nicht schwer, die Frage meines jungen Gesprächspartners zu beantworten. Viele meiner amerikanisch-jüdischen Mitbürger reisen noch immer ungern oder überhaupt nicht nach Deutschland. Sie denken nur an Auschwitz und Eichmann, anstatt nach Frankfurt, München oder Berlin zu fliegen, und das Deutschland Konrad Adenauers, Willy Brandts, Helmut Kohls, Angela Merkels und Karl Hartmanns zu "entdecken" und den Herausforderungen der Vergangenheit in Zusammenarbeit mit der heutigen Generation deutscher Bürger und Institutionen gerecht zu werden.


Robert B. Goldmann wurde 1921 als einziger Sohn eines jüdischen Landarztes in einem Odenwalddörfchen geboren. Er machte in Frankfurt am Main Abitur. Kurz darauf verließ die Familie Deutschland und kam 1940 über Großbritannien nach New York. Goldmann schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, um sein Studium zu finanzieren. Er war viele Jahre lang Journalist, bevor er sich sozial- und entwicklungspolitischen Aufgaben in der Dritten Welt widmete und schließlich ein Wegbereiter für die deutsch-jüdische Verständigung wurde. 1996 veröffentlichte er sein vielbeachtetes Buch "Flucht in die Welt", eine Lebens- und Familiengeschichte. Goldmann arbeitete lange für die Anti-Defamation League in New York und publiziert noch immer in amerikanischen und deutschen Medien.