Daniele Giglioli: "Die Opferfalle"

Probates Mittel zur Befreiung von zivilisatorischen Standards

Der Schatten eines Mannes in verzweifelter Haltung wird an eine weiße Wand geworfen, aufgenommen am 01.02.2015 in Dresden (Sachsen).
Der Schatten eines verzweifelten Mannes © dpa / Thomas Eisenhuth
Von Eike Gebhardt · 11.01.2016
Die Liste der Opfergruppen wird immer länger, ja, selbst Täter möchten gerne Opfer sein - aus einem einfachen Grund: Als Opfer habe man ja nicht anders gekonnt. Daniele Giglioli entlarvt ein nicht ganz neues Phänomen und hält die Fahne der Aufklärung hoch.
Wer hätte noch nicht die Opferrolle genutzt, um ein wenig Kapital daraus zu schlagen – vom sogenannten "sekundären Krankheitsgewinn" bis hin zur (selbst-)gerechten Empörung über Ungerechtigkeiten, bürokratische Sturheit oder Nachteile der Herkunft, der falschen Klasse, falschen Rasse.
Der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli greift in "Die Opferfalle" zahllose Beispiele auf und bietet diverse psycho-historische Erklärungen an. Viele sind davon durch eigene Alltagserfahrungen nachvollziehbar. Es liege zum Beispiel "etwas Beruhigendes darin, sich jemandem potenziell ausgeliefert zu fühlen. Ein Impfstoff, ein Immunisierungsverfahren, das uns durch eben das festigt, was es eigentlich zersetzen sollte."
Ohnmacht als Rechtfertigung mangelnder Eigenverantwortung
Als Lust des Sexualobjekts am Überwältigt-Werden kennt die Literatur das Phänomen, sich vor Eigenverantwortung und Aktivität zu drücken: die ohnmächtige Lage habe ja keine Chance zu eigenverantwortlichem, sprich: moralischem Handeln gelassen. Noch raffinierter ist die Befreiung von zivilisatorischen Standards durch den Opferstatus. Manche Nachkriegsdeutungen attestierten den Nazis den Opferstatus - mit dem Recht auf ausgleichende Gerechtigkeit: "Weil sie sich für Opfer hielten, haben sie getan, was sie getan haben."
Andererseits glaubt Giglioli: "Das Opfer verspricht vor allem Identität", eine durch die Umstände geprägte. So müsse Identität nicht durch Handlungen erschaffen werden. Freilich sieht der Autor auch die perverse Dialektik unseres Ideals der (kollektiven oder individuellen) Identität: Sie steuert und bestimmt, wir gehorchen ihr nur; gerade unser angeblich Ureigenes, das angebliche wahre Selbst, kann uns also entmündigen. "Von Natur aus künstlich, ist der Mensch auch von Natur aus revolutionär. Die Veränderung ist seine Ipseität", Teil seines Selbst. "Identität ist das Gegenteil der Revolution."
Unmündigkeit, Passivität und Machtlosigkeit als neue Güter
Das Selbstbild einer Opfer-Identität gleicht dem Syndrom dissoziativer Charaktere: "Im Opfer verbinden sich Mangel und Forderung, Schwäche und Anspruch, der Wunsch zu haben und der Wunsch zu sein." Allzu bequem sei die Opfer-Identität als heute modische "Widerrufung der Modernität": Anstelle des Ideals der Mündigkeit und des aufrechten Gangs gelten heute "Unmündigkeit, Passivität, Machtlosigkeit" als Güter. Und in der Tat, wer den modischen Selbstoptimierungszwang bedenkt, diesen allseits prämierten Drang zur fröhlichen Fremdbestimmung, kann sich nur wundern: Als Opfer begreifen sich Betroffene selten, trotz Stress & Burnout. Just dieses Paradox der Scheinfreiwilligkeit ist Gigiolis argumentative Stärke: "Wer sich nur noch fragen kann, wer er ist, und nicht, was er aus sich und seinen Beziehungen zu anderen machen kann, ist per definitionem ein Opfer." Es ist die schrumpfende Gestaltungsmacht, die die globalisierten Individuen zu frohen Opfern macht – durch ihre Selbstverstümmelung, die sie zu Recht als ihr Erfolgsrezept begreifen.
Trotz allem historischem, ja anthropologischem Pessimismus hält Giglioli die Fahne der Aufrechten hoch, sieht sich als Mahner des verlorenen Schatzes der Aufklärung: Der "Aufforderung, sich aus der Unmündigkeit zu befreien", sei sein Essay gewidmet. Wie ein Coach für die noch nicht ganz Hoffnungslosen schließt er mit reichlichen Empfehlungen zum Weiterlesen, einem "Who is Who" der Aufklärungsautoren.

Daniele Giglioli: Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
Aus dem Italienischen von Max Henninger
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2016
128 Seiten, 14,90 Euro