Daniel Kehlmann: "Heilig Abend"

Wettlauf von System und Systemkritik

Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz. © picture alliance / Erwin Elsner
Daniel Kehlmann im Gespräch mit Dieter Kassel |
Am Donnerstag wird Daniel Kehlmanns "Heilig Abend" uraufgeführt. Kehlmann inszeniert ein 90-minütiges Verhör: Ein Polizist verhört eine terrorverdächtige Philosophieprofessorin. Es gehe um das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit.
Ein Polizist, eine Terrorverdächtige und eine tickende Uhr - das ist der äußere Rahmen von Daniels Kehlmanns Kammerspiel "Heilig Abend", das am 2. Februar in Wien uraufgeführt wird.
"Das Stück ist ein Verhör zwischen einem Polizisten und einer Professorin, die er terroristischer Umtriebe verdächtigt", so Daniel Kehlmann im Deutschlandradio Kultur. Die Philosophieprofessorin soll eine Bombe gelegt haben, die an Heiligabend um Mitternacht explodieren wird. Dem Polizisten bleiben 90 Minuten, um herauszufinden, wo die Bombe ist - falls es sie gibt - und sie zu entschärfen.

Schlagabtausch zwischen System und Systemkritik

Das Verhör spiegelt den üblichen Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit wider, aber es wird auch zum Schlagabtausch zwischen System und Systemkritik: "Einerseits der Polizist, der sagt, ich muss die Menschen beschützen vor dem Terror, und andererseits die Professorin, die sagt, die Welt ist so furchtbar und das System ist an sich so gewalttätig, dass jeder Widerstand gegen das System seine Berechtigung hat", sagt Kehlmann.
Für den Polizisten sind das Fragen von vorgestern. Die Professorin hält dagegen. "Sie sagt: weil man das gelöst hat? Sind das Fragen von vorgestern, weil Problem der Armut beseitigt ist?" Wer von beiden Recht hat, entscheidet das Stück nicht. "Es darf in so einer Situation, glaube ich, nicht einen eindeutigen Gewinner oder Verlierer geben", so der Schriftsteller.
"Weil wenn hier einer von den beiden eindeutig im Recht wäre und der andere im Unrecht, dann würde so ein Stück sofort in Propaganda umschlagen."

Freiheit? Sicherheit? Es geht letztlich um Verteilungsgerechtigkeit

Letztlich stecke hinter vielen aktuellen Fragen die "viel profundere und tiefere und ältere Frage der Verteilungsgerechtigkeit", meint Kehlmann.
"Wieso sind die Güter der Welt so ungerecht verteilt? Wieso sind wenige so reich und so viele so arm, und was kann man tun, um die Güter der Welt besser zu verteilen? Diese Frage ist immer noch die Frage, die unterhalb all dieser Fragen liegt, die wir als viel aktueller empfinden, und sie ist immer noch die wichtigere." (uko)

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ein Ermittler und eine Terrorverdächtige sitzen in einem kargen Raum. Der Ermittler hat genau 90 Minuten Zeit, von der Frau zu erfahren, wo sie eine Bombe gelegt hat, denn dann, um Mitternacht, soll diese Bombe explodieren. Falls es sie erstens wirklich gibt, diese Bombe, und falls zweitens die Tatverdächtige auch wirklich die Täterin ist. Das ist die Handlung von "Heilig Abend", des neuen Stücks von Daniel Kehlmann, das übermorgen in Wien seine Premiere erlebt.
Ich habe mich mit dem Bestsellerautor Kehlmann gestern Abend darüber unterhalten und hatte kurz zuvor dieses Stück gelesen – sehen kann man es ja noch nicht – und muss ganz offen zugeben, dass ich noch niemals nach dem Lesen eines Stücks oder auch eines Romans so ratlos war. Ich konnte mich nicht entscheiden, wen der beiden ich beispielsweise sympathisch finde, wem ich glaube, wer da eigentlich im Recht ist. Und ich habe das auch als Erstes Daniel Kehlmann gefragt, ob das seine Absicht war, Ratlosigkeit zu erzeugen?

Im Stück darf es keinen eindeutigen Verlierer und Gewinner geben

Daniel Kehlmann: Nein, meine Absicht war, ein echtes Dilemma zu zeigen, also einen echten bestehenden Konflikt, in dem Fall zwischen Freiheit auf der einen Seite und Sicherheit auf der anderen. Es gibt halt in so einem Dilemma keine einfache Lösung, und das Stück ist ein Verhör zwischen einem Polizisten und einer Professorin, die er terroristischer Umtriebe verdächtigt. Ich will nicht zu viel sagen, um das Ende nicht zu verraten, aber sagen wir mal: Es darf in so einer Situation, glaube ich, nicht einen eindeutigen Gewinner oder Verlierer geben, deswegen muss einiges offen bleiben. Weil, wenn hier einer von den beiden eindeutig im Recht wäre und der andere im Unrecht, dann würde so ein Stück sofort in Propaganda umschlagen.
Kassel: In einem Punkt übrigens war ich mir sicher, und vielleicht sagen Sie jetzt: Und genau das ist falsch! Es ist ein Theaterstück, es ist ein Kammerspiel, aber vor allen Dingen war mein Eindruck: Es ist ein Duell! Es ist auch eine Art von Duell zwischen zwei Leuten.
Kehlmann: Ja. Ja, also, ich glaube, dramatischer Dialog, Dialog auf einer Bühne, damit er interessant ist, damit man ihm folgt, muss eigentlich immer Konflikte verhandeln. Das ist eine seltsame Regel, aber das ist eine Regel, die das Theater eben immer schon mit sich getragen hat. Und man merkt das auch in der Probenarbeit, man merkt das, jeder Moment im Dialog, der nicht einen Konflikt entweder vertieft oder weiterträgt, wird sofort als langweilig empfunden, als überflüssig. Also, insofern war es ohnehin klar, wenn man ein Zwei-Personen-Stück schreibt, muss es ein Duell sein. Besonders natürlich dann, wenn es ein Verhör ist, das ist dann natürlich eine noch stärker aufgeladene Situation, als wenn es nur ein Beziehungsstreit ist.
Kassel: Das ist aber auch wirklich spannend. Ich meine, es wird auf der Bühne wahrscheinlich noch viel spannender sein, aber das ging mir schon beim Lesen so: Es gibt, wie ich finde, eigentlich eine dritte Rolle in diesem Stück, nämlich die Uhr.
Kehlmann: Ja, genau.

Das Stück läuft in Echtzeit

Kassel: Es heißt "Heilig Abend", weil es an Heiligabend spielt, und zwar beginnt es – im literarischen Sinne – 90 Minuten vor Mitternacht. Das muss man glaube ich auf der Bühne nicht Minute für Minute einhalten, aber es endet auf jeden Fall um Mitternacht. Das heißt, es ist auch ein Kampf gegen die Uhr. Ich hatte das Gefühl, Sie wollten etwas mit aktuellem Bezug mal schreiben, ein Theaterstück, aber ein bisschen hatten Sie auch Lust auf Krimi, oder?
Kehlmann: Ja, durchaus. Beziehungsweise auf diese gestärkte, intensivierte Spannung, die durch die Echtzeit kommt. Also, man wartet tatsächlich, was passiert um Mitternacht, und die Uhr läuft darauf zu. Und das ist natürlich ein zusätzlich großer Druck auf die Schauspieler. Ich habe erst mal, bevor ich das so geschrieben habe, habe ich den Regisseur Herbert Föttinger gefragt: Kann man das überhaupt machen, ist das überhaupt möglich, dass man das in der Probenarbeit so auf die Minute, fast schon auf die Sekunde genau hinbekommt, dass genau zum Ende des Stückes es Mitternacht ist? Und der sagte: Ja, das machen wir. Daraufhin habe ich mich überhaupt erst getraut, das so zu schreiben als Echtzeitgeschichte.
NSA-Whistleblower Edward Snowden bei einer Videokonferenz mit dem Europarat in Straßburg.
Die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden inspirierten Daniel Kehlmann, über Freiheit und Sicherheit zu schreiben.© AFP - Frederick Florin
Kassel: Aber davon abgesehen, woher kam denn überhaupt Ihr Bedürfnis, zum ersten Mal wirklich etwas zu schreiben mit einem so direkten aktuellen gesellschaftlichen Bezug? Dass es so ist, haben Sie selber ja schon mal gesagt, wieso hatten Sie dieses Bedürfnis?
Kehlmann: Ich hatte es einfach plötzlich. Also, ich hatte das Bedürfnis, zunächst mal auf die Edward-Snowden-Enthüllungen – ich habe damals schon mit dem Stück angefangen –, also auf die Edward-Snowden-Enthüllungen zu reagieren, weil mich das einfach zutiefst fasziniert hat und weil es tatsächlich auch Themen, mit denen ich mich immer beschäftigt habe als Schriftsteller, entgegenkommt, dieses Thema der Überwachung, dass da jemand ist, der sieht, was wir machen, und wir wissen es nicht, jemand weiß plötzlich etwas über unser Leben, von dem wir gedacht haben, keiner weiß es. Und also, darüber wollte ich schreiben und da schien mir dann … Ich wollte eben auch ein Verhör schreiben und dann kamen diese beiden Dinge zusammen.
Und alles andere an aktuellen Themen hat sich dann eigentlich … Gewissermaßen das Stück hat sich damit vollgesaugt und eine ganze Menge ernsthafter Dinge sind passiert. Es hat noch mehr wirklich sehr drastische Terroranschläge gegeben, es hat den Charlie-Hebdo-Anschlag gegeben, es hat den großen Anschlag in Bataclan in Paris gegeben und dann in Brüssel, es hat dann den fürchterlichen Wahlkampf von Donald Trump gegeben. Das heißt, beide Seiten, einerseits der Polizist, der sagt, ich muss die Menschen beschützen vor dem Terror, und andererseits die Professorin, die sagt, die Welt ist so furchtbar und das System ist an sich so gewalttätig, dass jeder Widerstand gegen das System seine Berechtigung hat, beides wurde immer weniger theoretisch und immer mehr mit Aktualität vollgesaugt. Das ist passiert, weil sich die Welt verändert hat in der Zeit. Was natürlich für die Welt furchtbar ist und ich hätte lieber, dass es nicht so passiert wäre, aber für das Stück war es gut.

"Es ist nicht meine Rechtfertigung, es ist die Rechtfertigung dieser Figur"

Kassel: Das ist wirklich sehr interessant, denn das, was Sie gerade indirekt zitiert haben, was Judith sagt, also die Tatverdächtige in diesem Stück, das wollte ich ohnehin als Nächstes wörtlich zitieren. Ich mache es ein kleines bisschen noch, sie sagt nämlich: Was, wenn es eigentlich ein furchtbares System ist, das den Globus ausbeutet und den Menschen in Angst und Unwissenheit hält? Und sie sagt es diesem Ermittler, diesem Polizisten, der – das spielt so mit – im Prinzip Teil dieses Systems ist auch für sie. Und das kann man interpretieren als Rechtfertigung für Terrorismus und auch für Bomben. Ist es so gemeint?
Kehlmann: Das kann man so interpretieren, ja. Es ist aber … Muss ich mich sofort distanzieren und sagen: Es ist nicht meine Rechtfertigung, sondern es ist die Rechtfertigung dieser Figur. Meine Aufgabe liegt natürlich als Spielschriftsteller darin, diese Rechtfertigung auch so überzeugend zu machen, wie ich nur irgend kann. So wie meine Aufgabe auch darin liegt, diesen Polizisten, der sie überwacht und auch sehr brutal unter Druck setzt, auch so überzeugend zu machen, wie ich nur irgend kann. Insofern, wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich auf ihrer Seite bin: Ich bin nicht für Gewalt und ich bin nicht für Terrorismus, aber ich bin als Schriftsteller dafür, dass das Publikum in dem Moment, wo sie ihren Standpunkt vertritt, das Gefühl hat, dass sie nicht unrecht hat.
Kassel: Mir ging es aber die ganze Zeit beim Lesen so, dass ich doch deutlich gemerkt habe – und das kann man glaube ich verraten –, es ist nicht direkt ein Stück über islamistischen Terrorismus. Es ist kein politischer Kommentar, gar nicht.
Kehlmann: Nein, gar nicht.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann zu Gast im Deutschlandradio Kultur.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann zu Gast im Deutschlandradio Kultur.© Deutschlandradio/Maurice Wojach
Kassel: Mir ging es immer so … Ich bin ja nun mal Deutscher, mir ging es immer so, ich habe an die 70er-Jahre in der damaligen Bundesrepublik gedacht, an die Zeit des RAF-Terrorismus, und habe mir zum Beispiel vorgestellt: Genau dieses Verhör, dieser Dialog, der hätte damals stattgefunden haben können, sowohl auf einer Bühne als auch mehr oder weniger in der Realität. Das heißt, die Fragen, mit denen Sie sich beschäftigen, sind, auch wenn wir das oft so im Tagesgeschäft glauben, eigentlich überhaupt nicht neu.
Kehlmann: Genau, und der Polizist macht sich ja auch über sie lustig und sagt: Das sind ja Fragen von vorgestern. Und sie sagt: Weil man das gelöst hat? Sind das Fragen von vorgestern, weil das Problem der Armut beseitigt ist? Und also, in dem Fall muss ich natürlich sagen, da hat sie wirklich nicht unrecht. Und also da, wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen, ich glaube tatsächlich, dass vieles von dem, was wir als aktuellere Fragen empfinden, darüber hinwegtäuscht, dass die viel profundere und tiefere und ältere Frage der Verteilungsgerechtigkeit – wieso sind die Güter der Welt so ungerecht verteilt, wieso sind wenige so reich und so viele so arm, und was kann man tun, um die Güter der Welt besser zu verteilen, diese Frage ist immer noch die Frage, die unterhalb all dieser Fragen liegt, die wir als viel aktueller empfinden, und sie ist immer noch die wichtigere.

Die eigene Ratlosigkeit mit den Zuschauern teilen

Kassel: Kommen wir doch zum Schluss noch mal auf meine Ratlosigkeit vom Anfang zurück: Halten Sie es denn als Schriftsteller überhaupt nicht für Ihre Aufgabe, Antworten zu liefern, und nur für Ihre Aufgabe, Fragen zu stellen?
Kehlmann: Sie formulieren das so kritisch, aber ich würde doch …
Kassel: Nein, das war meine Stimme, das war nicht der Inhalt, das ist eine offene Frage.
Kehlmann: Sagen wir so: Ich sehe es tatsächlich als meine Aufgabe an, dort, wo ich glaube, eine sehr gute Antwort zu haben, würde ich die nicht verschweigen. Aber dort, wo ich ratlos bin, sehe ich es als meine Aufgabe an, diese Ratlosigkeit zu teilen.
Kassel: Daniel Kehlmann über sein neues Theaterstück "Heilig Abend". Die offizielle Premiere ist übermorgen am Donnerstag im Theater in der Josefstadt in Wien, aber schon heute gibt es die erste Voraufführung, öffentliche, bereits um 11:30 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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