Dana Grigorcea: "Die nicht sterben"

Rumänien durch die Dracula-Brille betrachtet

07:26 Minuten
Das Buchcover zeigt die farbenfrohe Illustration einer über Kopf hängenden Fledermaus
Mit "Die nicht sterben" legt Dana Grigorcea einen schillernden, faszinierenden Roman vor. © Deutschlandradio/Penguin
Von Jörg Magenau · 03.04.2021
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Vom Kult um Vlad Tepes über den Dracula-Mythos bis zu Ceausescu und der neokapitalistischen Gegenwart: Für ihren Roman über Rumänien schöpft Dana Grigorcea aus einem tiefen Erfahrungs- und Geschichtenfundus. Ihr glückt damit ein großer Wurf.
Die Ich-Erzählerin legt Rechenschaft ab. Was geschehen ist, hat sie so überwältigt, dass sie es erzählen muss: "Ich kann nicht umhin, diese Geschichte zu erzählen, zumal ich sie aus nächster Nähe erlebt habe und alle Berichterstattung darüber als falsch erkenne."
Vom ersten Satz an ist es der Ton der Legende. So beginnen Schauergeschichten, in diesem Fall eine Dracula-Variation aus dem postkommunistischen Rumänien.
Da ist noch nicht zu ahnen, dass die Erzählerin selbst bald fledermausartig durch die Nacht fliegt und auf dem besten Wege ist, sich in einen Vampir zu verwandeln. Die Spiegel reflektieren kein Bild mehr von ihr zurück. Und doch ist sie nicht substanzlos. Sie ist ja da, indem sie erzählt. Aber man sollte ihr wohl nicht vorbehaltlos trauen.

Jenseits der Zeiten

Ort der Handlung ist das Städtchen B. am Fuße der Karpaten. Hier hat die Erzählerin, eine Malerin, die in Paris Kunst studiert, die Sommer ihrer Kindheit im Kreis der Familie verbracht. Kunst und damit die Frage, wie sich etwas ins Bild setzen lässt, ist eines der durchgängigen Themen des Romans.
Die mütterliche Großtante Margot, genannt Mamargot, war das Zentrum einer fröhlichen, gastfreundlichen, großbürgerlichen Gesellschaft, die sich in der Villa versammelt, die ihr einst gehörte und nach 1989 wieder zum Eigentum der Familie wird. Im Ceausescu-Rumänien war das Haus ein Ort, wo alle zusammen sich über den Diktator, den Kommunismus und all den Kommunistenkitsch lustig machten, ein Ort jenseits der Zeiten, an dem die Geschichte aber doch gegenwärtig bleibt.
Die Nachwendezeit ist offenbar weniger lustig. Das zeigt sich im Jahr 2004, in der Handlungsgegenwart des Romans, als die Erzählerin hierher zurückkehrt. Es könnte sein, dass ihr die Reihenfolge der Ereignisse durcheinandergerate, entschuldigt sie sich, aber vielleicht ergebe ja genau dieses Durcheinander einen Sinn, weil es in der Historie nicht um Ursache und Wirkung gehe, sondern um etwas Umfassenderes, um "Schicksal".

Von Ceausescu bis zum Neokapitalismus

So bereitet die in der Schweiz lebende und auf Deutsch schreibende Dana Grigorcea den historischen Boden ihrer Gegenwartsdiagnose. Gekonnt verbindet sie Mythen um Vlad den Pfähler – das mögliche historische Vorbild von Bram Stokers Dracula-Figur –, mit Erinnerungen an die Diktatur Ceausescus, der sein Volk ausgesaugt hat wie ein Vampir, und spiegelt sie in der neokapitalistischen Gegenwart, wenn in B. ein Dracula-Erlebnispark eingerichtet werden soll, um Touristen anzulocken.
Der Bürgermeister und sein Sohn, die in der neuen Zeit genauso gut zurechtkommen wie einst unter Ceausescu, sind die Repräsentanten dieser historischen Kontinuität.

Der "Pfähler" als Nationalheld

Die Handlung ist relativ schlicht. In der fürstlich ausgestatten Familiengruft entdeckt die Ich-Erzählerin eine entstellte Leiche und daneben das Grab von Vlad dem Pfähler, einem Vorfahr, dessen Blut also auch in ihren Adern fließt und dem sie auf vampireske Weise zu verfallen droht.
All dem Legendenmaterial des Dracula-Stoffes stellt Grigorcea die innerrumänischen Mythen um Vlad III. entgegen, der seine Gegner und alle, denen er misstraute oder die ihm nicht gefielen, auf bestialische Weise zu pfählen pflegte. Wer kein Rückgrat hat, dem gebe ich eines, sagte er dazu.
Grigorcea spart nicht an Details dieser blutigen Scheußlichkeiten, die aber nichts daran ändern, dass Vlad III. ein rumänischer Nationalheld ist, weil er gegen Türken und Ungarn kämpfte, so dass er noch heute die Sehnsucht nach nationaler Selbstbestimmung und nach einer "harten Hand" verkörpert.

Zwischen Fantasy und Gesellschaftsanalyse

Dana Grigorceas Schauerroman ist ein Plädoyer dafür, sich den Geschichtsbildern und ihrem Weiterwirken in der Gegenwart zu stellen. Der Spiegel, der leer bleibt beim Anblick eines Vampirs, ist dafür ein starkes Bild.
Auf elegante Weise gelingt es ihr, dokumentarische Passagen, Fantasy und Gesellschaftsanalyse zu verknüpfen. Sie schreibt sinnlich und schön, so dass man spürt, wie die körperliche Verwandlung der Ich-Erzählerin vonstatten geht, die sich ins Nebelhafte aufzulösen beginnt und zugleich übernatürliche Kräfte gewinnt.

Ein schillernder, faszinierender Roman

Dass sie am Ende doch zurückfindet ins Menschendasein, ist das Hoffnungszeichen, das der Roman sendet: Gegen die Chauvinismen und all die Gewalt der Geschichte setzt Dana Grigorcea die Überzeugung, dass sich die Überlieferung rational durchdringen lässt.
Dass ihr das mit den Mitteln des Phantastischen gelingt, ist das eigentliche Wunder dieses schillernden, faszinierenden Romans.

Dana Grigorcea: "Die nicht sterben"
Penguin, München 2021
264 Seiten, 22 Euro

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