Damals war alles anders

Von Maren Schibilsky |
Wir schreiben das Jahr 2057. In der "Sandbüchse", wie der Landstrich um 2000 noch genannt wurde, macht sich die typische Steppenvegetation breit. Was damals an den Oderhängen im Nationalpark zu finden war, ist nun auch andernorts anzutreffen.
Um die Jahrtausendwende waren erste Anzeichen unübersehbar. Die Niederschläge gingen "dramatisch zurück", in den Sommermonaten herrschte Wassernotstand. Kieferwälder taugten nicht als Wasserspeicher, der Grundwasserspiegel ging drastisch zurück. Es war die Zeit, da die Lausitz von Tourismusexperten als "Sahara Deutschlands" vermarktet wurde.

5. Juni 2057. Flugplatz Potsdam.
Professor Stan Anderson vom "Museum für deutsche Klimageschichte" in Potsdam besteigt einen Helikopter. Mit der Minikamera will er das aktuelle Bild der brandenburgischen Landschaft vergleichend dokumentieren. Immer wieder gibt es Anfragen aus der Bevölkerung, wie es früher mal in dem Landstrich aussah? Ob die Fotos in den Familienalben denn tatsächlich stimmen? Und warum sich eine Landschaft so wandeln konnte.

"Extremfall Land Brandenburg". Flug in Trockengebiete Fläming und Lausitz. 5. Juni 2057. Temperatur 38 Grad. Sonnig trocken.

Brandenburg ist das Opfer einer erneuten deutschen Teilung geworden. Die politische Teilung Deutschlands galt 1990 als überwunden, da steuerte die Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf eine klimatische Teilung des Landes zu.

Position 50 Kilometer südlich von Berlin. Landschaftsbezeichnung Hoher Fläming.

Ehemals größtes Kiefernwaldgebiet Brandenburgs. Heute eine der regenärmsten Regionen Deutschlands. Beginn der spürbar abnehmenden Niederschläge um die Jahrtausendwende. Grund war eine Veränderung der Westwindzirkulation über dem Nordatlantik. Sie transportierte die Regengebiete nur noch bis in den Südwesten Deutschlands. Brandenburg blieb weitgehend trocken.

Leichte Turbulenzen jetzt unterhalb von achtzig Meter Flughöhe. Sandstürme toben auf den kahlen Höhenrücken des Flämings.
Die Kiefernwälder brachen unter der Dürre weg, starker Wind fand keinen Widerstand mehr vor, nur noch Sandboden. Der aufgewirbelte Sand dringt in die Ritzen der Häuser ein und bedeckt alles mit einer dünnen Staubschicht.
Die Bewohner des Flämings verlassen kaum ihre Häuser. An den Schulen gibt es "Sandsturmfreie Tage".
Wer dennoch das Haus verlässt, hat sanddichte Schutzkleidung angelegt. Ein Design, das vor Jahrzehnten für Wüstenexpeditionen in der Sahara entwickelt wurde. Mit Mundschutz und Brille.
Bei starken Nordostwinden geht der märkische Sand sogar über München nieder.

Der Helikopter dreht ab. Professor Anderson vom "Museum für brandenburgische Klimageschichte" verlässt den Fläming. Anflug Niederlausitz.

Im Tiefflug geht es über eine Region, die der Bezeichnung "Streusandbüchse" einen neuen Sinn gab.

Die Prärie Brandenburgs ist in Sicht. Ausgetrocknete Grasebenen, auf denen Wisentherden weiden. Die ersten Tiere kamen aus dem Wildpark Schorfheide - nördlich von Berlin.
Dort hatten sie Anfang des Jahrhunderts noch Exotenstatus und standen unter Naturschutz. Als der Regen ausblieb und die Versteppung zunahm, vermehrten sich die ausgewilderten Tiere explosionsartig. Mittlerweile sind es so viele, dass Wisente zur Jagd frei gegeben sind.

Safaries zu den Herden sind bei Touristen beliebt. Große Filmgesellschaften nutzen die Wisente als attraktive Kulisse für Westernproduktionen.

Bitte noch tiefer fliegen.

Überflug weiterer Steppengebiete.
Adonisröschen erobern den Raum. Die gelbe Steppenblume war einst eine Rarität. Sie wuchs nur auf besonders trockenen Südhängen an der Oder und stand unter strengstem Naturschutz. Zur Blütezeit pilgerten tausende Menschen zur ihr und feierten ein Adonisröschenfest.

Heute wird die Steppenblume von den Brandenburgern gehasst, weil sie sich wie Unkraut vermehrt und Zeichen für die unaufhaltsame Versteppung des Landes ist.

Steppenbrand kurz vor Cottbus.
Brandenburg wird häufig von Bränden heimgesucht. Schon vor Jahrzehnten wüteten starke Waldbrände.

Die Waldbrände haben den Brotbaum des Landes – die Kiefer – vernichtet.
Der anspruchslose Nadelbaum war trotz Regenarmut ein Überlebenskünstler auf Brandenburgs Streusandbüchse. Dem kargen Sandboden. Doch die Kiefer brannte schnell bei Trockenheit. Nur vereinzelt hat die Kiefer den Klimawandel überlebt Vom Kiefernland Brandenburg sprechen nur noch die Geschichtsbücher.

Der Helikopter landet in Cottbus. Professor Stan Anderson steigt in ein Erkundungsfahrzeug um, um in den Spreewald zu reisen.
Über den Bordcomputer kann er die Landschaft des Spreewaldes aus dem Jahre 2007 rekonstruieren.

Kommentierte Filmaufzeichnung Professor Anderson.
Tour Spreewald. 5. Juni 2057. Temperatur 40 Grad. Sonnig trocken.

Fahrt durch ausgetrocknetes Flussbett der Haupt-Spree von Cottbus Richtung Spreewald. Nur im Winterhalbjahr führt die Spree noch Wasser. Als kleines Rinnsaal.

Der Bordcomputer zeigt im Sommer Wasser in der Spree. Die Bilder stammen aus dem Jahr 2007. Zum größten Teil muss es Wasser gewesen sein, dass Brandenburg teuer aus den Talsperren des Nachbarlandes Sachsen einkaufte. Mit der Zeit ging dem Bundesland das Geld dafür aus. Die Spree trocknete aus.

Die Folgen sieht man heute. Fahrt durch breite staubige Flussbetten, die sich immer mehr verzweigen. Das müssen die vielen Seitenarme der Spree gewesen sein. Verwittertes Holzschild am Ufer. Zur Hauptspree steht drauf. Ankunft im Spreewald.

Der Bordcomputer zeigt 2007 auf den Seitenarmen der Spree noch Holzkähne voller Menschen. Sie wurden von Spreewaldkapitänen per Hand durch den Wasserwald gestakt. Die Menschen aßen an Bord grüne Gurken. Es war die berühmte Spreewaldgurke. Für ihren Anbau fehlte später das Wasser.

Mit steigenden Temperaturen erwärmten sich allmählich die flachen Seitenarme der Spree. Algen breiteten sich rasch aus. Malariamücken kamen. Der Spreewald wurde zum Malaria-Sperrgebiet, ist es heute immer noch.

Im Sommer ist der Spreewald bekanntlich komplett trocken. Vorbeifahrt an zerfallenen Dörfern. Nur wenige Menschen sind geblieben. Meist ältere. Reste der Holzkähne liegen am Ufer. Früher sollen sie das wichtigste Verkehrsmittel im Spreewald gewesen sein. Zeugnisse einer verschwundenen Wasserwelt.

Als die Spree kaum Wasser mehr führte, bekam die Millionenstadt Berlin ein Trinkwasserproblem. Die Berliner tranken vorwiegend aufbereitetes Spreewasser. Die lokalen Wasserbetriebe versuchten lange Zeit, bei Trockenheit gereinigtes Abwasser zu Trinkwasser aufzubereiten. Doch die Verfahren wurden zu teuer. Der Wasserpreis schnellte in die Höhe. Die Berliner verweigerten die Zahlung. Ein Wasserkrieg drohte.

Die Wasserbetriebe waren zeitweise gezwungen, Wasser auf internationalen Märkten aufzukaufen.
Um die Lage zu entschärfen, erhob die Bundesregierung eine Wassersteuer. Mit den Mehreinnahmen wurden unterirdische Rohrleitungen finanziert. Sie führen heute durch das gesamte Bundesgebiet - von den regenreicheren Ländern nach Brandenburg und Berlin. Der Wassersolidarpakt wurde vertraglich festgeschrieben. Nun fließen Jahr für Jahr Milliarden Kubikmeter Trinkwasser in die Bundeshauptstadt und Brandenburgs Steppengebiete. Ein Jahrhundertprojekt.

Fahrt aus dem Spreewald heraus. Richtung Frankfurt Oder. 30 Kilometer nördlich davon. Große Agrargebiete.

Landschaftsbezeichnung: Lebuser Platte und Oderbruch.

Erntemaschinen sind auf den Feldern unterwegs. Eine Region, in der die Landwirtschaft überlebt hat.
Das Erfolgsrezept der Bauern war die rechtzeitige Umstellung auf neue Saatgutzüchtungen im Ackerbau. Weizen-, Roggen-, Raps- und Maissorten, die weniger Wasser brauchen.
Die Bauern profitierten von Forschungsarbeiten des nahe gelegenen Zentrums für Agrarforschung in Müncheberg.
Außerdem haben die Landwirte ihre Agrarflächen verkleinert und mit Feldhecken begrenzt. Sie spenden Schatten und verbessern das trockene Mikroklima.

Lastwagen bringen regelmäßig Grasschnitt von den Grünlandflächen auf die Felder. Damit mulchen die Bauern und schützen ihre sandigen trockenen Böden vor der sommerlichen Dürre.

Im Geschichtspavillion des "Zentrum für Agrarforschung" in Müncheberg. Die Ausstellung "Bauernsterben durch Klimawandel in Brandenburg" sorgte dieser Tage in den Medien für Aufsehen.

Erschütternde Filmaufnahmen von Missernten in Brandenburg beginnend vor 50 Jahren.
Sie zeigen wie die Sommerdürre zwei Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe in den wirtschaftlichen Ruin trieb. Zu viele Bauern warteten zulange ab. Sie setzten auf EU- und Landesgelder, die es vor einem halben Jahrhundert noch bei Ernteausfällen gab. Als Brandenburg diese Zahlungen einstellten musste, war es für die meisten vorbei. Einige Landwirte versuchten noch auf Weinanbau oder Baumwollplantagen umzusteigen. Doch dafür fehlte das Wasser im Land.

Im Oderbruch durchziehen tiefe Gräben das Land. Sie stammen zum Teil aus der Zeit des Preußenkönigs Friedrich dem Zweiten. Das ist mehr als 300 Jahre her.
Die jüngeren Gräben entstanden in der Zeit der DDR. Jedem Moor und jeder Feuchtwiese wurde damals das Wasser abgegraben, um Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen. Komplexmelioration wurde das damals genannt.
Hundertausende Kilometer von Entwässerungsgräben soll Brandenburg mal gehabt haben. Als der Klimawandel einsetzte, fiel dieses überdimensionierte Entwässerungssystem dem Land auf die Füße.

Der Regen, der nur noch im Winter kam, floss in die Gräben ab und wurde einfach weg geleitet. In Flüsse und Seen. Im Frühjahr kam die Trockenheit. Den Bauern fehlte das Wasser in der Landschaft.

Viel zulange wurde einfach nur zugeschaut, wie das Wasser im Winter davon floss. Später gab es verzweifelte Versuche, die Entwässerungssysteme zurück oder für eine Wasserspeicherung umzubauen. Dagegen gab es erst starken politischen Widerstand, dann zuviel Bürokratie. Zehn Jahre verstrickte man sich in Prüfungen und Genehmigungsverfahren, um wenige Meter Entwässerungsgraben unwirksam zu machen. Doch der Klimawandel war schneller als die Bürokratie.

6. Juni 2057. Flugplatz Müncheberg.
Professor Stan Anderson startet mit dem Helikopter ins nördliche Brandenburg – in die Uckermark und Prignitz.

Flug zu den Resten des Wasserlandes Brandenburg.
6. Juni 2057. Lufttemperatur 35Grad. Leicht bewölkt. Trocken.

Position 80 Kilometer nördlich von Berlin.
Landschaftsbezeichnung: Uckermark. Eiszeitlich geprägte Region. Sanfte Hügel, Wälder. Mittendrin einige Seen.

Alte Reiseführer schreiben, dass um die Jahrtausendwende mehr Fischadler als Einwohner pro Quadratkilometer hier lebten. Doch die begehrten Jagdreviere des Fischadlers gingen verloren. Da viele Seen austrockneten. Der stattliche Raubvogel zog sich Richtung Norden nach Skandinavien zurück.

Anflug Lychen. Uckermärkische Seen.
Früher war die Region berühmt für ihre kühlen klaren Waldseen mit Sichttiefen über fünf Meter. ´Blaue Augen der Landschaft´. Jetzt sind es nur noch dicke grüne Suppen. Warme Seen voller Algen und Schlamm.

Boote fahren nicht mehr. Die Schiffsschrauben verfangen sich in den Wasserpflanzen. Kanufahrer bleiben mit ihren Paddeln stecken. Außerdem verbreiten die Seen unangenehme Fäulnisgerüche.

Holzstege stehen mitten in der Landschaft. Einst standen sie an einem Seeufer, Boote legten dort an. Und Kinder sprangen von ihnen ins Wasser.

Doch das Wasser zog sich zurück. Jedes Jahr, Meter um Meter. In den heute noch existierenden Seen sinkt der Wasserspiegel weiter.

Bitte jetzt Rundflug über die Wälder.

Die Walddecke der Uckermark ist stark gelichtet. Kiefern-Eichenwälder dominieren.

Buchonia nannte vor über 2000 Jahren der alte Römer Tacitus das Land der Germanen wegen seiner dichten Buchenwälder. Die gab es auch hier in der Uckermark noch vor etwa 50 Jahren.
An feucht-mildes atlantisches Klima angepasst, hatte die Buche in Brandenburg aber keine Überlebenschance. Die Bundesforstanstalt für Holzwirtschaft Eberswalde versuchte noch, ostpolnische Buchen hier aufzuforsten. Die benötigen weniger Wasser, weil sie an trockenes kontinentales Klima angepasst sind. Aber auch für sie hat der Regen in der Uckermark nicht gereicht.

Anfang des Jahrhunderts trugen die Laubbäume im Winter fünf Monate lang keine Blätter. Heute sind es gerade mal drei Monate. Ende November ist Laubfall. Anfang März treiben die meisten Laubbäume wieder aus.

Anflug unteres Elbtal. Position Wittenberge.
Elbe in Sicht. Ein breites Flussbett, ein schmales Rinnsal.

Breite Sandstrände am Elbufer. Früher wateten und badeten hier Menschen im Wasser. Sie sonnten sich fast unbekleidet, um braun zu werden. Heute setzen sich die Brandenburger nur mit Hüten und langer, luftdurchlässiger UV-Schutzkleidung der intensiven Sonnenstrahlung aus.

Die Hafenruine bei Wittenberge.
Seit Jahrzehnten fahren im Sommer auf der Elbe keine Frachtschiffe mehr. Im Winter ist das manchmal noch möglich. Aber an 250 Tagen im Jahr ist die Elbe nicht mehr schiffbar. Dabei hatte die Bundesregierung vor 50 Jahren noch viel Geld in die Hand genommen, um die Elbe als Bundeswasserstraße für große Containerschiffe auszubauen. Entgegen der Klima- und Wasserprognosen.

Durch die sinnlose Verbreiterung und Vertiefung der Elbe floss noch mehr Grundwasser aus der Umgebung ab. Die einst unter europäischen Schutz gestellten Elbwiesen mit ihren Auwäldresten trockneten aus. Frösche, Kröten und Unken verschwanden.

Stattdessen bevölkern tausende Grillen und Zikaden das ausgedörrte Gras.

Die vielen Störche, die früher zum Bild der Elbdörfer gehören, gibt es nicht mehr. Sie sind abgewandert in Regionen, wo es noch feuchte Wiesen gibt und sie genügend Nahrung finden.

Seinen Ruf als wichtige Zugvogeldrehscheibe hat Brandenburg schon lange verloren. Vor 50 Jahren zogen noch Tausende Singschwäne, Wildgänse und Kraniche hier durch. Gerade das untere Elbtal war ein wichtiges Rast- und Durchzugsgebiet. Doch die trockenen Flusswiesen geben nicht mehr genug Futter für die Tiere her.

Der Helikopter mit Professor Stan Anderson landet in Potsdam auf dem Areal des Museums für deutsche Klimageschichte.

Filmaufzeichnung "Extremfall Brandenburg" beendet. Fazit: Brandenburg ist das Bundesland mit den gravierendsten Veränderungen seit der Klimawandel vor 50 Jahren spürbar eingesetzt hat.

Dieser Reisebericht fand im Jahr 2057 in der hiesigen Öffentlichkeit starke Aufmerksamkeit. Dies auch deshalb, weil er 50 Jahre alt war und aus dem Jahr 2007 stammte. Die Fakten waren damals bekannt, aber später sagten dann viele: Das haben wir nicht gewusst.