Dänische Filmkomödie "Helden der Wahrscheinlichkeit"

Wie Stochastiker Rache üben

Blick in ein fahrendes Auto mit den vier Darstellern
Es tut gut, sich am Schicksal zu rächen: Der Kriegsveteran Markus (Mads Mikkelsen, r.) und seine drei Mitstreiter. © Zentropa Entertainments3 ApS & Zentropa Sweden AB / filmpresskit
Anders Thomas Jensen im Gespräch mit Susanne Burg · 25.09.2021
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"Ich liebe Statistiken", sagt der dänische Regisseur Anders Thomas Jensen über seinen neuesten Film "Helden der Wahrscheinlichkeit". Er erzählt, warum Humor für ihn so wichtig ist, wenn er schreckliche Dinge wie Tod und Trauma filmisch umsetzt.
Susanne Burg: Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung lässt sich die Welt erklären, zumindest sind die Protagonisten in dem neuen Film "Helden der Wahrscheinlichkeit" davon überzeugt. Denn als der Berufssoldat Markus, gespielt von Mads Mikkelsen, seine Frau bei einem Zugunfall verliert, leuchtet ihm schnell ein, dass es kein Unfall war.
Der arbeitslose Mathematiker Otto vermutet einen gezielten Anschlag der Rockerbande "Riders of Justice". Und fortan macht sich ein Trupp skurriler Eigenbrötler, also Markus, Otto, sein Freund Lennart und der Hacker Emmenthaler auf, um für vermeintliche Gerechtigkeit zu sorgen.
Die Welt geschaffen hat der dänische Drehbuchautor und Regisseur Anders Thomas Jensen. Wie schon in seinen Filmen "Dänische Delikatessen", "Adams Äpfel" und "Men & Chicken" setzt Jensen auch bei "Helden der Wahrscheinlichkeit" durch absurde Logik und mit ziemlichem Tempo eine Geschichte in Gang, die zugleich komisch, absurd als auch tragisch ist.
Denn unter der schrägen Oberfläche zeigen sich Traumatisierungen und seelische Abgründe und geht es um Empathie, Gerechtigkeit und die Frage nach dem eigenen Ort in der Welt. Welches Verhältnis haben Sie zur Wahrscheinlichkeitsrechnung?

"Ich liebe Statistiken"

Anders Thomas Jensen: Ich schätze die Wahrscheinlichkeitsrechnung sehr. Wie die meisten menschlichen Gehirne, mag auch mein Gehirn Verbindungen. Das Problem ist nur: Das Gehirn liebt Zusammenhänge so sehr, dass es sie auch dort sieht, wo es gar keine Zusammenhänge gibt. Und dann kann es gefährlich werden. Aber ja, ich liebe Statistiken und Wahrscheinlichkeiten und ich liebe es, wenn Dinge aufgehen und Sinn ergeben.
Burg: In der heutigen Welt werden ja viele Verknüpfungen gemacht. Gerade Verschwörungstheorien und Fake News führen uns vor Augen: Alles hängt davon ab, wie man Zusammenhänge herstellt. Was hat Sie daran als Autor interessiert, der sich ja im fiktiven Bereich bewegt, nicht in Nachrichtenzusammenhängen?
Jensen: Es ist lustig. Sobald man sich in die Welt der Kunst begibt, sind Zufälle nicht wirklich erlaubt, vor allem nicht im Drama. Eine Dramaturgie, in der der Bösewicht durch Zufall erwischt wird, funktioniert nicht. Es muss ein schwerer Weg für den Protagonisten sein, den Bösewicht zur Rechenschaft zu ziehen. Wir wollen daran glauben, dass es eine höhere Bedeutung gibt oder einen Grund oder etwas, das alles zusammenbringt. Aber so ist das Leben nicht.

"Genre ist manchmal ein bisschen öde"

Burg: In Ihrem Film ist es nun so, dass es einen Bösewicht gibt, der gejagt wird. Er ist aber vor allem ein Bösewicht, weil Ihre Protagonisten Verknüpfungen herstellen und ihn in ihrer Interpretation dazu machen. Wie sehr wollten Sie auch mit gängigen Genres spielen, für die kausale Zusammenhänge zentral sind, wie zum Beispiel dem Rachedrama?
Jensen: Ja, das wollte ich sehr. Ich habe das auch in meinen vorherigen Filmen getan, nicht ganz so drastisch. Ich habe mit diesem Film versucht, ein Melodram wie ich es mit Susanne Bier gemacht habe, mit meinen eigenen Geschichten zu mischen, mit diesen schrägen, dunklen Komödien. Ich glaube, Genre ist manchmal ein bisschen öde, weil wir es so gut kennen und es so vorhersehbar ist.
Beim Rachedrama wissen wir zum Beispiel seit Hamlet wie es abläuft: Etwas passiert, ein Mann – mittlerweile auch eine Frau – muss sich rächen und es kann gut oder schlecht ausgehen. Und wenn man das nicht extrem gut macht, ist es langweilig. Ich habe also versucht, etwas Neues in das Genre hineinzubringen.
Beziehungsweise, ich habe es so gemacht, wie ich es mir wünschen würde, wenn ich ins Kino gehe. Ich mag Filme, in denen etwas Unerwartetes passiert, wo es nicht diesen Deal mit dem Publikum gibt, wohin die Reise geht.
Und man darf nicht vergessen: Genrebezeichnungen sind Marketingtools. Es geht darum, den Leuten mitzuteilen, ob sie Sushi essen oder italienisch. Ich nenne meinen Film eine Art Buffet. Sie wissen nicht, was Sie bekommen. Es gibt da keine tiefere Bedeutung, außer, dass ich es selber mag. Ich liebe es, wenn Filme mich überraschen.
Burg: Ja, die Figuren in Ihrem Film sind sehr schräg, aber alle leiden an ernsthaften Traumata. Wenn wir auf die inhaltliche Ebene kommen, dann könnte die Bedeutung die Frage sein, wie man Trauma heilen kann.

Eine Figur, die zwei Welten verbindet

Jensen: Ja, von den Themen her gibt es sehr viel mehr Tiefe als beim Genrespiel. Auch dadurch, dass ich das Melodram mit hineinbringe. Die Schwierigkeit ist, eine Balance zu finden.
Beim Schneiden mussten wir häufig lustige Szenen herausschneiden, weil wir die Gefühle oder die Tiefe des Films ruinierten, wenn wir uns für einen Witz entschieden. Und Ottos Figur ist so wichtig, weil er der Klebstoff ist zwischen den beiden Welten, zwischen der naturalistischen und der verrückten Nerd-Welt. Otto ist die Figur, die den Film trägt.
Burg: Markus, der Soldat, ist derjenige, der sich der Rache verschreibt. Und am Anfang wissen Otto, Lennart und Emmenthaler ja gar nicht, worauf sie sich einlassen. Als die erste Person stirbt, sind sie ein bisschen verängstigt, aber sie machen weiter. Warum bleiben sie bei Markus?
Jensen: Sie tun es aus verschiedenen Gründen. Emmenthaler, weil er sein ganzes Leben lang gemobbt wurde. Und plötzlich gibt es diese Person, die all die Situationen rächen kann, in denen er fett genannt wurde oder sich jemand über ihn lustig gemacht hat.
Bei Otto gibt es ein Gefühl der Schuld. Hätte er im Zug der Frau nicht seinen Platz angeboten, wäre sie nicht gestorben. Und bei Lennart ist es schwierig, das logisch zu erklären. Er ist eine sehr schräge Figur. Er macht mit, einfach nur, um dabei zu sein. Er würde auch töten, um bei der Gruppe dabei sein zu können.

"Humor ist ein Überlebensmechanismus"

Burg: Es ist lustig, dass sie noch immer lachen, wenn Sie über die Figuren sprechen. Sie hatten wohl viel Spaß dabei, sie zu entwickeln.
Jensen: Ja, ich liebe die Figuren. Das ist immer so. Manchmal sagen Produzenten, vielleicht sollte die Figur sterben? Ausgeschlossen. Ich kann meine Figuren nicht töten.
Burg: Wie Sie schon sagten, Sie schreiben auch realistische Geschichten für Susanne Bier oder Lone Scherfig. Wenn Sie für Ihre eigenen Filme schreiben, sind Ihre Figuren häufig diese sympathisch verschrobenen merkwürdigen Figuren. Was reizt Sie so sehr an der Groteske und dem dunklen Humor?
Jensen: Das ist Teil meiner persönlichen Geschichte, meiner Familie. In den schlimmsten Zeiten gab es für uns immer noch den Humor. Auch bei Beerdigungen. Alle trauern, und plötzlich sagt eine Person etwas Lustiges. Humor ist ein Überlebensmechanismus.
Für mich war es daher schlüssig: Wenn man einen Film hat, bei dem es um so schreckliche Dinge geht wie Tod und Trauma, dann muss Humor ein Teil sein. Ich finde es einfacher, eine Fabel zu erzählen, wenn man sie in Humor einwickelt. Man kann thematisch weiter gehen und deutlicher werden.

Authentische Darstellung, trotz aller Verrücktheit

Burg: In einem Interview zu einem anderen Film sagte Mads Mikkelsen, dass Wirklichkeit für ihn wichtig sei im Film. Und er meinte damit kein naturalistisches Set, sondern eine authentische Performance. Können Sie mit dieser Aussage etwas anfangen?
Jensen: Oh ja, auf jeden Fall. Ich weiß genau, was er meint. Darüber haben wir auch in den letzten 25 Jahren, die wir zusammengearbeitet haben, immer wieder geredet. Egal wie verrückt die Prämisse eines Films ist, die psychologischen Aspekte einer Figur und wie ein Schauspieler sie transportiert, müssen in der Realität verankert sein. Für mich sind die besten Komödien die, in denen die Schauspieler so wirken, als hätten sie noch nicht mal gemerkt, dass sie in einer Komödie spielen.
Burg: Wie sehr ist dieser Ansatz ein Erbe der Dogma-Ideen, wo die unmittelbare Wahrhaftigkeit eine wichtige Kategorie war?
Jensen: Ja, da ist was dran. Ich glaube, diese Tradition geht aber noch weiter zurück. Es stimmt, dass mich Dogma gelehrt hat, mich auf die Figuren zu konzentrieren statt auf alles Drumherum. Denn die Figuren und die Geschichte sind das, worauf es ankommt.
Und Dogma hat gesagt: keine überflüssige Gewalt, kein Licht, all das. Aber eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Jeder sollte meiner Meinung nach auf diese Weise Filme machen.

"Es ist Wirklichkeit, die leicht verdreht ist"

Burg: Wenn Sie sagen, das Drumherum ist zweitrangig, welche Rolle spielt dann die Umgebung, das Set in Ihren Filmen und in diesem Film insbesondere?
Jensen: Nun, ich würde sagen, man könnte diese Figuren theoretisch in einem Zug treffen. Vielleicht erkennt man sie nicht sofort, aber es gibt sie. Ich glaube das zumindest. Das heißt, es ist Wirklichkeit, die leicht verdreht ist. Und wir haben die Umgebung so gestaltet, dass sie dazu passt.
Burg: Wie wichtig ist es, dass die Welt, die Sie zeigen, in sich geschlossen ist?
Jensen: Wir nehmen die Zuschauer an der Hand und sagen ihnen: Ihr seid jetzt in unserer Welt. Das heißt: Alles ist möglich. Kommt mit. Wenn die Welt so aussähe, wie wir sie kennen, würde das nicht gut funktionieren. Märchen beginnen ja immer mit "Es war einmal". Das ist eine Verabredung mit dem Publikum, um zu zeigen: Jetzt sind wir im Märchenland. Das ist hier ähnlich.

Dänemark – "das langweiligste Land der Welt"

Burg: Das Branchenmagazin "Variety" hat Ihren Film im Sommer zu seinen liebsten zehn Filmen des Jahres gezählt. Es scheint ein bisschen so, als sei das für dänische Filmemacher nicht ungewöhnlich. Als seien Sie fast an internationale Aufmerksamkeit gewöhnt.
Jensen: Ja, auf eine Handvoll Regisseure trifft das zu. Ich weiß auch nicht, warum wir so erfolgreich sind. Wir machen halt sehr viel Drama. In Dänemark selber gibt es kein Drama. Es ist das langweiligste Land der Welt. Es gibt keine Kriege, keine Naturkatastrophen, keine gefährlichen Tiere.
Die einzige Art und Weise, wie man Drama bekommt, ist, wenn jemand an Krebs erkrankt oder von einem Auto angefahren wird. Nur so kann man einen dänischen Film beginnen. Nein, aber ehrlich: Es gibt ja viel Drama in menschlichen Beziehungen. Und vor allem in Familien.
Ich glaube, dass es bei 95 Prozent der dänischen Filme der letzten Jahre um Familien ging. Und das hat gute Dramen produziert. Ich glaube, das ist ein Teil der Erklärung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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