"Da wünsche ich mir von der Kommission ein stärkeres Rückgrat"

Birgit Sippel im Gespräch mit Marietta Schwarz · 27.09.2012
Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, fordert eine stärkere Unterstützung der Länder an den EU-Außengrenzen bei der Flüchtlingsfrage. Ein Land wie Griechenland brauche dabei finanzielle, aber auch personelle Hilfe.
Marietta Schwarz: Keine drei Wochen ist das letzte Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel Lampedusa her, ein Teil der Flüchtlinge konnte gerettet werden, für die anderen kam jede Hilfe zu spät. Das ist kein Einzelfall. Die Flucht nach Europa kostete in diesem Jahr schon Hunderte Menschen das Leben. Und doch hält es sie nicht davon ab, den Weg - meist aus Afrika - nach Europa in eine bessere Zukunft anzutreten. Südeuropa ist mit dem Strom überfordert, der Norden will vom Problem nichts wissen. Pünktlich zum Weltflüchtlingstag morgen berät auch heute der UNHCR zur Situation der Flüchtlinge. Und ich bin am Telefon verbunden mit Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europaparlament. Frau Sippel, guten Morgen!

Birgit Sippel: Schönen guten Morgen, Frau Schwarz!

Schwarz: Die EU hat sich ja lange mit einem europaweiten Asylrecht sehr schwer getan. Nun gibt es zumindest einen Entwurf auf dem Papier. Was würde sich demnach für die Flüchtlinge denn ändern?

Sippel: Ja, Sie haben ja eingangs schon darauf hingewiesen, was die Situation ist. Und wenn Sie sagen, Europa hat sich sehr schwer getan, so muss man sagen, es waren insbesondere die Mitgliedsstaaten, die sich sehr schwer getan haben. Und wie Sie schon ausgeführt haben, insbesondere die aus dem Norden. Insofern ist das, was jetzt auch in den Ausschüssen diskutiert worden ist, tatsächlich ein erster Kompromiss, bei dem ich mir deutlich mehr gewünscht hätte, der aber gleichwohl einige Verbesserungen mit sich bringt. Etwa bei der Frage der Minderjährigen in Bezug auf Eingliederung, Sprachkurse, Schulzugang, aber auch die Frage der Familienzusammenführung, die deutlich vereinfacht ist gegenüber der jetzigen Situation.

Schwarz: Also insgesamt eine Verbesserung?

Sippel: Eine kleine Verbesserung. Und man muss natürlich immer sehen: Ist es eine Verbesserung für die Situation, wie wir sie derzeit in Deutschland haben, oder ist es eine Verbesserung mit Blick auf andere Mitgliedsstaaten? Denn die Situation für Flüchtlinge ist natürlich in allen Mitgliedsstaaten - wir sehen die Bilder ja immer wieder - durchaus unterschiedlich. Insofern ist, glaube ich, bei der Frage, wer ist denn zuständig für die Flüchtlinge, eines ganz besonders wichtig, nämlich der neu eingeführte Frühwarnmechanismus. Das heißt, die Kommission und das Asylunterstützungsbüro müssen regelmäßig schauen, wie ist denn die Situation in den Mitgliedsländern, wie ist die Umsetzung dieser ganzen Richtlinien, gibt es Krisen, die man erkennen kann, in der unmittelbaren Nachbarschaft vor europäischen Grenzen, um dann rechtzeitig Krisenpläne zu entwerfen und sicherzustellen, dass die Systeme dann auch funktionieren in den Mitgliedsstaaten.

Schwarz: Aber wie sieht denn so ein Krisenplan aus? Dann werden einfach die Grenzen noch dichter gemacht?

Sippel: Das will ich nicht hoffen, sondern es geht ja um die Frage - deshalb gibt es ja das Asylunterstützungsbüro, es gibt auch den Europäischen Flüchtlingsfonds -, das heißt, wenn man merkt, dass ein Mitgliedsstaat überfordert ist oder schlicht die Dinge, zu denen er sich verpflichtet hat, nicht umsetzt, muss einerseits Druck gemacht werden und außerdem können die Mitgliedsstaaten, wenn tatsächlich eine Überforderung vorliegt, mit finanziellen Mitteln unterstützt werden, um Strukturen aufzubauen.

Es kann Personal bereitgestellt werden, um eine große Zahl von Flüchtlingen, um die Anträge der Flüchtlinge auf internationalen Schutz und auf Asyl möglichst schnell zu bearbeiten, das ist ja auch ein großes Problem, da gibt es Hilfen. Und es soll dann natürlich auch geprüft werden, wenn wirklich besonders viele Flüchtlinge zu erwarten sind, inwieweit man ungeachtet der Dublin-Verordnung Flüchtlinge vielleicht auch in Nachbarländer bringen kann, um die Anträge dort zu bearbeiten.

Schwarz: Da sprechen Sie etwas ganz Wichtiges an, Dublin II, also die Regelung, wonach der Flüchtling in dem Land Asyl beantragt, das er zuerst betritt. Ist das nicht das größte Problem der europäischen Asyl-Regelung?

Sippel: Es führt in Zeiten, wo es besonders viele Flüchtlinge gibt, natürlich immer wieder zu Überlastungen an den Außengrenzen, das haben wir erlebt. Allerdings ist es umgekehrt auch so - auch das haben Sie eingangs ja schon angesprochen -, die Staaten, die keine Außengrenze haben, halten sich da ein wenig zurück und waren nicht bereit, über einen Mechanismus zu reden, nach welchen Kriterien man möglicherweise dafür sorgt, dass Flüchtlinge frühzeitiger in andere Länder gebracht werden.

Grundsätzlich braucht man natürlich einen Mechanismus, um festzulegen, wer zuständig ist, damit a) - das ist ja das, was gerne diskutiert wird - Flüchtlinge nicht womöglich in mehrere Länder gehen, dort Anträge stellen, aber auch umgekehrt nicht die Flüchtlinge von den Mitgliedsstaaten hin- und hergeschoben werden und letztlich niemand zuständig ist. Insofern brauchen wir einen solchen Mechanismus. Gerade deshalb ist aber dieser Frühwarnmechanismus wichtig, um festzustellen, wo gibt es Probleme und was können wir tun, um diese Probleme präventiv schon anzugehen und Ausweichmöglichkeiten zu finden.

Schwarz: Aber Frau Sippel, es ist doch so: So lange die betroffenen Länder an den EU-Außengrenzen alleine für Flüchtlingsströme verantwortlich sind - und da wird ja auch so ein Frühwarnmechanismus nicht viel ändern -, werden sie die Aufnahme doch auch mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Das heißt, an der mitunter katastrophalen Situation an den Grenzen ändert sich nichts!

Sippel: Gerade deshalb möchte ich, dass die Kommission ihre Aufgabe wahrnimmt. Denn die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen ist ja eine, die alle Mitgliedsstaaten unterzeichnet haben. Es gibt ja schon ein Recht, was Asyl angeht, es gibt Richtlinien zum Asyl. Und wenn die Mitgliedsstaaten gemeinsam beschließen, jawohl, wir wollen uns an bestimmte Regeln halten, und sie dann nicht umsetzen, dann muss man natürlich Ross und Reiter benennen.

Und da wünsche ich mir auch von der Kommission ein stärkeres Rückgrat, genau an der Stelle Ross und Reiter zu benennen. Weil, es nützt ja nichts, wenn wir in Sonntagsreden über Menschenrechte reden und im Alltag dann diese Dinge nicht umsetzen! Was Griechenland angeht, müssen wir natürlich im Moment sagen, die sind ohnehin schwer gebeutelt durch die Krise und haben da ganz andere Probleme.

Deshalb muss man an der Stelle - ich sage es noch mal - über den Flüchtlingsfonds, über das Asylunterstützungsbüro finanzielle, aber auch personelle Hilfe leisten, und die Nachbarstaaten müssen, wenn tatsächlich eine Überforderung vorliegt, bereit sein, zu sagen, okay, wir nehmen euch mal 1000 Flüchtlinge ab. Das wird niemanden schwer belasten. Und wenn ich mir ein Land wie Deutschland vorstelle, wenn die in einer Notsituation auch mal 3000 Flüchtlinge aufnehmen, das fällt in einem 80-Millionen-Land nicht großartig auf!

Schwarz: Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europaparlament, über die europäische Asylpolitik. Morgen ist Internationaler Tag der Flüchtlinge. Frau Sippel, danke für das Gespräch!

Sippel: Gerne, Frau Schwarz, schönen Tag noch!

Schwarz: Ihnen auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Mehr zum Thema bei dradio.de:
Asylbewerber müssen mehr Geld bekommen - Bundesverfassungsgericht: Staatliche Hilfe zu niedrig
20 Jahre Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende in Trier
Schutz statt Abwehr von Flüchtlingen - EU-Innenminister beraten in Brüssel
Die Flüchtlingswelle aus Tunesien und die EU-Asylpolitik