Da unten ist nicht die Hölle

Mit Reportagen aus der globalisierten Arbeitswelt der Billiglöhner gibt sich der Soziologe Frank Hertel nicht zufrieden. Er reflektiert und klagt an. Er sucht immer die "Anti"-Position zum üblichen Reflex. Das liest sich äußerst spannend.
Eine kleine Fabrik in Bayern. Sie produziert Backwaren für Discounter und holt ihre "Knochenarbeiter" gern aus "Asylantenheimen". 45 Wochenstunden à 8,10 Euro Fließband-Gebäck abpacken, Paletten in Kühlräume fahren, Teigballen bewegen: "ein Albtraum aus Hast und Hochgeschwindigkeit". Die Maschinen womöglich noch kaputter als die Menschen, der Takt menschenverachtend, den Rest an Stress machen faule oder miese Kollegen.

Die Pausen sind so kurz, dass entweder Klo oder Nikotin infrage kommen. Es rauchen fast alle, einige sind obendrein Trinker, Kaffee ist Droge Nummer eins, zum Essen fehlt meistens die Zeit. Alles, was Frank Hertel von seinem Jahr in dieser Fabrik schildert, illustriert: Arbeit macht krank.

Eine Günter-Wallraffiade aus dem Prekariat allerdings liefert er nicht: "Da unten ist nicht die Hölle!" Man könne da durchaus glücklicher sein als jemand, der vom Staat fürs Zuhausehocken bezahlt wird. Und ohne "die da unten" würde "weiter oben" alles zusammenbrechen.

Frank Hertel, 1971 geboren, hat einen Magister in Soziologie und eine gut verdienende Frau. Er hatte alle möglichen Jobs, von Möbelpacker bis Literaturkritiker. Ältere Akademiker haut so ein Lebenslauf nicht vor Staunen um, viele im Westen haben während ihres Studiums in Fabriken gejobbt, manche sogar anstelle des Studiums, um einem "revolutionären Subjekt" namens Proletariat auf die Sprünge zu helfen.

Damals gab es jede Menge "Literatur der Arbeitswelt" - menschheitsbeglückend gut gemeint, also nicht besonders gut geschrieben. Jahrzehnte später fiel die Mauer, war das sozialistische Experiment abgewickelt, drangen Digitalisierung und Globalisierung in individuelle Leben und gesellschaftliche Zusammenhänge ein.

Kehrt damit die Arbeitswelt zurück ins Kulturschaffen? Hertel hat einen scharfen Blick für Typisches und ein Händchen für Porträts der neuen globalisierten Arbeitskraft: Khaled, der irakische Ingenieur; der dicke Thomas, der bei Mama lebt und zwölf Stunden pennt; Nikolai aus Weißrussland, der Brad Pitt werden will und Pornos auf dem Handy hat; Bobo aus Burma, der für "freedom and democracy" ist und mit dem Chinesen aneinandergerät; Marko, der Kosovare, der einmal im Monat in einen tschechischen Puff fährt; Rosi aus der Ex-DDR, die noch Ehrgeiz hat ...

Aber nicht die Kollegen treiben Frank Hertel am meisten um. Er reflektiert alles, sich selbst eingeschlossen, und hantiert dabei auch locker mit großen Begriffen wie Freiheit versus Gleichheit. In knackigen Sätzen, mit dem Furor des "J’accuse!". Aber er klagt nicht an, nicht einmal "die da oben", und erst recht nicht im Namen einer Utopie. Er sucht immer die "Anti"-Position zum üblichen Reflex, und das liest sich äußerst spannend.

Trotz manch naseweisen Tonfalls, manch überzogener Metapher, mancher Stammtisch-Phrase über "Unterschichtendummheit" - das rasante Plädoyer für Pragmatismus und Realismus wider die deutsche Verzagt- und Verträumtheit ist gutes Denkfutter. Hertel boxt verbal in alle Richtungen. Das wird ihm Prügel von allen Seiten eintragen, aber zumindest keinen Beifall von Rassisten.

Besprochen von Pieke Biermann

Frank Hertel: Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft
Hanser, München 2010
208 Seiten, 14,90 Euro