"Da ist sehr viel Zukunftspotenzial zu finden"

Ulrich Blum im Gespräch mit Marietta Schwarz · 23.09.2010
Solarindustrie, Chemie, Maschinenbau: Im 20. Jahr der Deutschen Einheit sieht der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle/Saale einige Wirtschaftszweige, die den neuen Bundesländern großes Innovationspotenzial für die Zukunft verleihen. In der gesamtdeutschen Bilanz werde dies aber wohl erst in zehn Jahren zu spüren sein.
Marietta Schwarz: Der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle/Saale, Ulrich Blum, beschäftigt sich schon sehr lange mit der Entwicklung in den neuen Bundesländern. Ihn habe ich gefragt, ob es dort wirklich am schlechtesten bestellt ist um die Zuversicht der Jugend in Deutschland?

Ulrich Blum: Wir haben auf jeden Fall natürlich ein ostdeutsches Problem oder ein mitteldeutsches Problem in den neuen Bundesländern, ganz einfach deshalb, weil wir dort natürlich nicht nur sehr hohe Anzahl an Jobouts aus dem Bildungssystem haben, sondern auch zum Beispiel eine sehr hohe Quote an Kinderarmut, die Armutsgefährdung ist höher, vor allen Dingen bei Alleinerziehenden, und dann Zuversicht zu haben, dass das Leben gestaltbar wird, ist natürlich schwierig.

Man darf ja auch nicht vergessen, dass wir erst jetzt in den sogenannten Fachkräftemangel oder eine Knappheit hineinkommen, und lange Zeit den jungen Leuten, die nicht ganz so willig waren, sich rechtzeitig ausbilden zu lassen, denen hat man gesagt: Man braucht euch eigentlich gar nicht. Ich meine, Sie müssen sich mal überlegen – die Frustration von einem jungen Menschen, der 20 Bewerbungen schreibt für eine Lehrstelle und keine Lehrstelle kriegt. Jetzt ändert sich das, aber das hat man natürlich sehr, sehr lange dort in ein … in ganz bestimmten Schichten verinnerlicht, und das muss man erst wieder abbauen. Und ich glaube, das wird eine große, große sozialpolitische Aufgabe sein.

Marietta Schwarz: Dennoch: Gibt es strukturschwache Regionen im Westen, die sich mit denen im Osten vergleichen lassen?

Blum: Ja, auf jeden Fall. Wir haben die Probleme in Gelsenkirchen, im Ruhrgebiet, für altindustrielle Gebiete, wir haben übrigens auch Probleme in ländlichen Gebieten, da ist es nicht unbedingt immer nur die Armut, sondern auch allein die Erreichbarkeit, dass nämlich viele, gerade in der Qualifizierung, viele zentrale Funktionen eben in den Städten sind, und damit riesige Reiseentfernungen für junge Leute in Kauf genommen werden müssen, wenn sie ihre Ausbildung bekommen wollen. Also es ist in dem Sinne überall mit Schwierigkeiten zu rechnen, wenn man nicht gerade in diesen prosperierenden Regionen ist.

Marietta Schwarz: Jetzt haben wir auch ein paar positive Gegenbeispiele, zum Beispiel die Entwicklung der Solarindustrie im Bitterfelder Dreieck. Ist das so ein Vorzeigeprojekt?

Blum: Es ist grundsätzlich so, dass wir in den neuen Bundesländern – aber das ist letztlich die Duplizierung der Erfolgsgeschichte Süddeutschlands, vor allem auch Bayerns – immer wieder Bereiche haben, Wirtschaftszweige haben, die letztlich die Innovation der Zukunft darstellen und die damit natürlich auch eine ganze Region ziehen. Die Solarindustrie ist eine, die hängt jetzt noch sehr stark an der Staatsknete, man sollte vorsichtig sein, aber es gibt andere, die gesamten nachhaltigen Energien sind in Mitteldeutschland extrem gut aufgestellt.

Also da muss man auch Wind hineinnehmen, da muss man Biomasse einbeziehen. Da ist wirklich ein hohes Potenzial, es ist … auch die Chemie in Mitteldeutschland läuft ausgezeichnet, auch der Maschinenbau läuft ausgezeichnet. Insofern ist da sehr viel Zukunftspotenzial zu finden, aber das wird sich in der gesamtdeutschen Bilanz wahrscheinlich erst in zehn Jahren wirklich spürbar niederschlagen. Die meisten denken sich heute, in Ostdeutschland oder in Mitteldeutschland kann ich keine Karriere machen. Wenn man sich die Situation aktuell ansieht, dann sind das sehr interessante Karrierepfade, die sich da … die den jungen Leuten da eigentlich vor die Füße geschmissen werden.

Marietta Schwarz: Sie haben gesagt, in zehn Jahren hat der Osten 90 Prozent der Wirtschaftskraft des Westniveaus erreicht. Was muss passieren, wie soll das geschehen?

Blum: Zunächst mal zu den 90 Prozent: Der Westen selbst ist ja kein richtiger Vergleichsmaßstab für den Osten, ganz einfach weil der Osten in der Agglomerations-, in der Siedlungsstruktur ganz anders gebaut ist. Man muss also aus dem Westen erst mal München, Frankfurt, Stuttgart, Ballungsräume, Rheinland und Hamburg rausziehen, dann kommt man auf einen Einkommensdurchschnitt im Westen, der etwas niedriger ist als 100 Prozent, ungefähr 90 Prozent, und das ist für die südlichen industrialisierten Teile von Ostdeutschland sicher erreichbar.

Und getrieben werden wird das vor allen Dingen durch die neuen Industrien. Wir haben eine unglaubliche Erfolgsgeschichte bei der Reindustrialisierung von Ostdeutschland hinter uns, gerade im mitteldeutschen Wirtschaftsraum, der ja ein Tüftlerraum, ein alter Ingenieurraum war und heute noch ist, ein Innovationsraum, und das wird sich dann in zehn Jahren niederschlagen. Die Exporte gehen dort hoch. Wenn ich mir anschaue, wie aktuell die Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft in Ostdeutschland ist, die im letzten Quartal näherungsweise zweistellig gewachsen ist, dann glaube ich, dass wir da auf einem sehr guten Weg sind.

Marietta Schwarz: Das hört sich so an, als ob wir uns um die Zuversicht der Jugendlichen im Osten dann doch gar nicht so viele Sorgen machen müssen.

Blum: Wir müssen den jungen Menschen deutlich machen, dass sich die Lage dramatisch geändert hat. Wir sind jetzt gekippt ins Geburtendefizit, junge Leute, qualifizierte Leute werden gesucht. Wir müssen in viel stärkerem Maße danach trachten, zu verhindern, dass die Qualifizierten abwandern, weil viele haben auf ihrem Fokus vor allen Dingen die westdeutsche Industrie und das ist nicht mehr der Fall, und wir müssen vor allen Dingen natürlich auch diesen Abenteurergeist irgendwo einfangen, denn viele der Mittelständler, die werden jetzt in die Exportstrategie, die Internationalisierung einsteigen müssen, und da dabei zu sein, kann natürlich eine faszinierende Tätigkeit sein. Das kann man im Westen so nicht erleben.

Marietta Schwarz: Stichwort Aufbau Ost: Ist das für Sie also eher ein Wirtschaftsthema oder vielleicht auch ein soziales, ein Bildungsthema, das wir da stärker angehen müssen?

Blum: Zunächst sollte man zur Kenntnis nehmen, dass wir in Deutschland immer wieder Aufbau hatten. Wir hatten das Rheinland, das Rheinland und das Ruhrgebiet haben den Rest Deutschlands oder vor allem Westdeutschlands nach dem Krieg durch diese unglaubliche Kraft aufgebaut. Bayern hat über Jahre hinweg, bis Mitte der 80er-Jahre Hilfe gekriegt, und hat dann plötzlich raketengleich ab 86, 87 Solidarpaktmittel erst in die restlichen Länder von Westdeutschland und dann nach Osten abgeben dürfen und müssen. Wir haben immer solche Erfolgsstorys, solche Polarisierungen gehabt. Bayern hat sich entwickelt, die nächste große Entwicklungsachse wird mit den erneuerbaren Energien sicher in Mitteldeutschland einen Schwerpunkt finden, und insofern sollte man vor allen Dingen erst mal mental zur Kenntnis nehmen, dass wir von der Ost-West-Polarisierung immer stärker zu der Nord-Süd-Polarisierung kommen.

Das ist ein Bildungsthema auch im allgemeinen Bildungssystem, dass wir zum Teil sehr schiefe Vorstellungen haben, was in den einzelnen Regionen los ist, und der zweite Teil ist natürlich ein Bildungsproblem, dass wir die entsprechenden Qualifizierten zur Verfügung stellen, aber wir brauchen natürlich auch Bildung, nicht nur Ausbildung, sondern Bildung mit hoher Halbwertszeit, wo man sehr lange im Leben davon profitieren kann. Und deshalb glaube ich, dass auch die Geisteswissenschaften in einer solchen sich dramatisch verändernden Umgebung eine ganz wichtige Rolle haben. Wir müssen viel mehr den Menschen zum Beispiel die Globalisierung, unterschiedliche Kulturen, all das erklären, um ökonomisch effizient zu sein. Wir merken ja die Folgen, wenn wir es nicht tun. Die ganze Debatte, die wir führen, ist heute eigentlich eine Kulturdebatte, dass wir uns nicht rechtzeitig daran gewöhnt haben, dass wir nicht nur alleine auf der Welt sind.

Marietta Schwarz: Ulrich Blum, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle. Ich danke Ihnen!

Blum: Bitte!