"Da bahnt sich ein Kulturwandel an"

Thomas Elsaesser im Gespräch mit Britta Bürger · 14.10.2011
Als "Gegengeschichte" bezeichnet der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser private Home Movies, bei deren Auswertung man viel über historische Ereignisse lernen könne. Für das Verständnis des 20. Jahrhunderts werde man vermehrt auf audiovisuelle Quellen zurückgreifen.
Britta Bürger: Es ist ein noch ungeschriebenes Kapitel der Filmgeschichte - Privatfilme - gedreht auf 8 und 16 Millimeter auf Super-8 oder Video, zunehmend auch digital. Rund um den morgigen "Internationalen Home Movie Day", der mittlerweile schon zum zehnten Mal stattfindet, befassen sich Historiker und Kulturwissenschaftler mit Amateurfilmen, die zunehmend auch von Archiven und Kinematheken gesammelt werden, denn sie sind eine Fundgrube für Details, die in der offiziellen Geschichtsschreibung fehlen.

Der Filmwissenschaftler Thomas Elsässer hat sich intensiv mit den 8-Millimeter-Filmen seines Vaters befasst und daraus interessante Schlüsse gezogen, über die wir jetzt sprechen wollen. Schönen guten Tag, Herr Elsässer!

Thomas Elsaesser: Guten Tag!

Bürger: Sind Ihnen diese Filme aus dem Berlin der 40er-Jahre eigentlich zufällig in die Hände gekommen oder wussten Sie, was Ihr Vater damals alles gefilmt hat?

Elsaesser: Wir hatten als Kinder diese Filme öfters mal zu Festen, Feiertagen, bei Besuchen gesehen, und sie waren uns vertraut als Filme, die dort etwas dokumentiert haben, was uns als Kinder immer sehr beeindruckt hat, eine Art idyllische Zeit auf einer Insel, aber wir wussten von dem Zusammenhang, dem Kontext relativ wenig. Sie waren also uns nicht als Zeitdokumente vertraut, sondern mehr eben als Familienfilme.

Bürger: Unter welchem Aspekt haben Sie diese Filme jetzt neu gesichtet?

Elsaesser: Das war ein ganz anderer Grund, nämlich ich wollte für eine Ausstellung zum Werk meines Großvaters im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt eine Kompilation zusammenstellen von Material, was meinen Großvater in jüngeren Jahren zeigen konnte.

Bürger: Der war Architekt?

Elsaesser: Er war Architekt und ist der Architekt der Großmarkthalle Frankfurt.

Bürger: Und dafür haben sie sämtliches Material gesichtet, auf dem Ihr Großvater eine Rolle spielte - was haben Sie in diesen Filmen über ihn erfahren?

Elsaesser: Ich habe nur diese Filme heraus ... , also diese Fragmente herausgeholt und sie zusammengestellt. Daraus ergibt sich nun eine interessante neue Perspektive, denn inzwischen habe ich auch den Hintergrund dieser Filme, und dabei stellt sich heraus, dass eigentlich hinter meinem Großvater in den Filmen meine Großmutter steht und dass neben ihr, quasi als guter Geist, ein doch für die deutsche Architektur- oder Gartenbaugeschichte wichtiger Pionier steht, nämlich Leberecht Migge, so etwas wie der Großvater der Grünen, ein Reformer der 20er-Jahre, der sich sehr stark für neue Ideen, der Verbindung von Stadt und Land interessiert hat. Und es stellt sich heraus, dass dieses Inselidyll, was wir als Kinder eben als Familiengeschichte gesehen haben, auch so etwas wie ein Experiment in alternativer Lebenskultur und Nachhaltigkeit darstellt.

Bürger: Etwas, das also ein Fremdkörper war mitten im Nazideutschland?

Elsaesser: In gewisser Weise doch eine Gegenbewegung, ohne dass die sich politisch exponiert hätte. Und man muss bedenken, was mal in den 20er-Jahren rot war, wurde dann in den 30er- und 40er-Jahren entweder grün oder braun. Also die Grünen-Bewegung hatte ja auch einen sehr starken Aspekt des Bluts und Bodens und der Autarkie. Und etwas, was mich zurzeit interessiert, ist, inwieweit Leberecht Migge, der sich damals in den 20er-Jahren der Grüne Bolschewik genannt hat, auch mit dem Regime sich verstanden hat, um dieses Experiment in den 30er-Jahren anfangen zu können.

Bürger: Es ist für Sie also ein ganz kleines Mosaikstückchen, das einen größeren Zusammenhang ergänzt sozusagen?

Elsaesser: Es ist auch in der Wissenschaft ein Punkt, der sehr stark in der Debatte steht, nämlich sind Filme, die aus dem Familienkreis kommen, also Home Movies oder Familienfilme, ist das eine Art Gegengeschichte. Und das wäre zum Beispiel der Ansatz, den eine recht bekannte Wissenschaftlerin in Amerika vertritt, Patricia Zimmermann, aber dagegen gibt es auch Stimmen, die sagen, man muss da sehr vorsichtig mit dem Dokumentargehalt der Familienfilme umgehen, denn das sind ja meistens gestellte Szenen, nicht? Klar inszeniert sich die Familie ja selbst so, wie man sich das idealerweise vorstellen möchte. Das heißt also, man inszeniert die Gegenwart auf die Zukunft hin und will in der Zukunft sich der Vergangenheit als einem Höhepunkt der Familiengeschichte erinnern. Das heißt also, da spielen auch sehr viele Wunschvorstellungen mit hinein, und diesen Aspekt des Idealisierens muss natürlich auch mitgenommen werden in die wissenschaftliche Analyse solcher Familienfilme.

Bürger: Also ähnlich umstritten wie die oral history?

Elsaesser: In gewisser Weise ähnlich gelagert, obwohl in der oral history ja oft auch sehr … manchmal ein ganz anderes Moment mitspielt, nämlich dass die Menschen denken, sie erinnern sich an tatsächliche Begebenheiten, wenn sie sich eigentlich nur noch an die Fotos erinnern, die sie damals gesehen, gemacht oder aufbewahrt haben.

Bürger: Aber ich hätte jetzt gedacht, dass die Amateurfilme hier doch eher hilfreicher sogar noch sind als die mündlich überlieferten Erinnerungen, weil sie eben tatsächlich einen Ausschnitt aus der Geschichte konservieren und dokumentieren.

Elsaesser: Genau, genau. Sie sind also in diesem Sinne nicht abhängig von der subjektiven Erinnerung.

Bürger: Aber eben doch gestaltet.

Elsaesser: Aber sie sind schon inszeniert und gestaltet. Und man kann natürlich als Anthropologe sehr viel herauslesen, auch schon mal ganz direkt - was die Mode angeht, Kleidung, Hausgegenstände, Körpersprache und so weiter. Das ist natürlich für den Ethnografen oder Anthropologen schon ein sehr interessantes Material.

Bürger: Zum morgigen "Internationalen Home Movie Day" sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, der die Amateurfilme seines Vaters aus den 40er-Jahren neu gesichtet und neu interpretiert hat. Herr Elsaesser, mittlerweile gibt es ja auch einen Studiengang, der sich "Visuelle Anthropologie" nennt. Beschäftigt man sich da also längst nicht mehr nur jetzt mit ethnografischen Filmen über andere Völker, sondern auch tatsächlich mit Amateurfilmen aus Deutschland?

Elsaesser: Ich kann Ihnen nicht sagen, inwieweit das auch in Deutschland der Fall ist, aber in meinem Heimatgastland, den Niederlanden ...

Bürger: Wo Sie Professor sind ...

Elsaesser: Ja ... Dort wird sehr intensiv Kolonialgeschichte mit Amateurfilmen und Familienfilmen betrieben, denn das niederländische Filmarchiv hat einen recht großen Bestand aus der Zeit, als die Niederlande noch große Besitzungen in was damals Niederländisch Ostindien hieß, also Indonesien. Und man muss bedenken, dass in den 30er-, 40er-Jahren Amateurfilmen noch ein relativ kostspieliges Hobby war, das heißt also, das war nicht jedem zugänglich, und deshalb haben die Familien, die dort die Kolonialverwaltung bestritten, oft über ihr tagtägliches Leben oder auch das Straßenleben Filme gemacht, und diese landeten dann im niederländischen Filmmuseum.

Und dort ist man jetzt dabei, das auch im Hinblick auf die Kolonialgeschichte der Niederlande neu zu sichten, neu zu interpretieren, wissenschaftlich zu unterfüttern und unterlegen. Und dass da auch natürlich ein gewisser Rassismus herauskommt, wie mit den sogenannten Einheimischen da umgegangen wird, wie die Bediensteten oder das Küchenpersonal mit ins Bild kommt, das sind eben dann schon auch für die Anthropologen und Historiker wichtiges Quellenmaterial.

Bürger: Es gibt im Amateurfilmbereich natürlich nicht nur private Familienfilme, über die wir vor allem gesprochen haben, sondern ja auch jede Menge Material, das politisch interessant ist, wie das, was Sie gerade erwähnt haben, aber auch ganz andere Sachen zum Beispiel aus den 80er-Jahren aus der Hausbesetzer- und Anti-AKW-Bewegung. Damals hat man ja versucht, selbst eine Art Gegenöffentlichkeit herzustellen. Gab es so was auch schon in früheren Zeiten?

Elsaesser: Mir ist es nicht bekannt. Es gab natürlich sehr viel Filmmaterial, was für Zwecke gemacht worden ist, die nicht für die öffentliche Vorstellung gedacht waren, ob das nun Medizinfilme sind oder ob das Betriebsfilme sind und so weiter - also da ist ein richtiger Kontinent von visuellem und auch audiovisuellem Material noch zu sichten, was, ich nehme mal, an unser Bild des 20. Jahrhunderts in diesem unserem 21. Jahrhundert noch sehr verändern wird. Ich glaube, wir werden immer mehr das Bild des 20. Jahrhunderts über diese audiovisuellen Quellen erschließen und darstellen und weniger über schriftliche Dokumente.

Ich glaube, da bahnt sich ein Kulturwandel an, in dem auch solches Material, also Familienmaterial oder private Filme eine große Rolle spielen. Aber ich glaube, Sie haben recht, das erst ab den 80er-Jahre, also auch zur Zeit, als das Fernsehen schon sehr stark präsent war, dass man tatsächlich auch die Technik hatte, also tragbare Camcorder, um so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu erstellen, die jetzt natürlich heutzutage, wenn man denkt an das, was sich in den arabischen Ländern tut, über Handy und so weiter ...

Bürger: Ja, überall, bei YouTube, bei Facebook, jeder stellt Filme ins Internet.

Elsaesser: Facebook, Twitter und so weiter oder eben auch YouTube. Natürlich jetzt, wo uns das so präsent ist, wie stark das auch eine politische Gegenöffentlichkeit schafft, kann man natürlich versuchen, das auch rückschauend zurückzuverfolgen, aber da kann ich Ihnen persönlich leider nicht allzu viel Auskunft geben. Aber ich nehme an, dass das morgen beim Home-Movie-Tag auch zur Diskussion steht.

Bürger: Drehen Sie selbst eigentlich auch privat Filme?

Elsaesser: Nein!

Bürger: Nie und nimmer?

Elsaesser: Eigentlich nicht. Also ich besitze zwar auch einen Camcorder wie jeder heutzutage, aber dass ich mich ganz bewusst damit in der Verlängerung meines Vaters dessen bedient hätte, das ist nicht der Fall.

Bürger: Morgen Abend wird der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser neben vielen anderen zum Internationalen Home Movie Day in der Deutschen Kinemathek in Berlin die Amateurfilme seines Vaters präsentieren. Ab heute findet dazu eine Tagung statt. Herr Elsaesser, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Elsaesser: Ich danke Ihnen!

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