Cybercity mit „Dritte Welt“-Flair

Von Sabina Matthay |
Bürotürme in den Satellitenstädten vor Mumbai und Neu Delhi, Technologieparks, in denen die Cyberelite arbeitet, Unternehmen, die Jahr für Jahr Millionäre produzieren – Indien entwickelt sich schnell – gleichzeitig aber lebt über ein Drittel der Bevölkerung des Landes in bitterer Armut.
Dieses Formel Eins-Rennen findet nur auf dem Bildschirm statt – der Simulator steht in einem Einkaufszentrum im indischen Gurgaon. Doch der Programmierer Anupam fühlt sich, als habe er den Grand Prix gewonnen, der gerade zum ersten Mal in Indien ausgetragen worden ist.

„Das ist das Größte, und endlich haben wir es! Darauf bin ich stolz!“

Wieder ist Indien zu den führenden Nationen der Welt aufgeschlossen – auch das schwingt in der Begeisterung des jungen Mannes mit, der für ein Call Center arbeitet. Selbstbewusst, materialistisch und globalisiert – Anupam ist typisch für die englischsprachige Mittelschicht, die vor allem von der wirtschaftlichen Liberalisierung Indiens vor zwanzig Jahren profitiert hat. Selbst Indiens Slumbewohner haben heute Handies und kennen Computer:

„Solche Rechner sind was Tolles, sehr nützlich. Ich habe noch nie einen benutzt, aber mein Sohn schon.“

Rickschafahrer Muhammad steht für die große Masse der Inder, die am Rande des Existenzminimums leben, ohne richtige Berufsausbildung, ohne soziale Sicherheit. Rund 500 Millionen Menschen, mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben immer noch in extremer Armut. Nach Ansicht von Sozialaktivisten sind sie die Verlierer der Liberalisierung. Trotzdem glauben Beobachter, dass Indien in den nächsten 15 Jahren den großen Rivalen China überholen und zur drittgrößten Volkswirtschaft aufsteigen kann. Denn Wachstum ist in Indien Ergebnis eines Privatsektors, der die Mängel des Staates mit Improvisation überwindet. Kaum ein Ort verkörpert das besser als Gurgaon vor den Toren der indischen Hauptstadt Neu Delhi.

Die morgendliche Rush Hour – eine Lawine von Bussen, Limousinen und Geländewagen; an den funkelnagelneuen U-Bahnstationen warten Rikschas auf den nächsten Schub eiliger Schichtarbeiter; verwahrloste kleine Mädchen betteln Wartende um ein paar Rupien an. 1991, als Indien auf mehr Privatisierung und weniger Regulierung zu setzen begann, war Gurgaon noch ein verschlafenes Dorf. Heute leben hier mehr als anderthalb Millionen Menschen in modernen Wohnanlagen, pendeln täglich Zigtausende aus Neu Delhi zur Arbeit in den glitzernden Bürotürmen. Surinder Khurana leitet die Dependance einer amerikanischen Anlageberatung. In Gurgaon, sagt er, kollidiere unternehmerischer Schwung mit staatlichem Leerlauf:

„Wenn ich vor die Tür gehe, dann befinde ich mich mitten in einem Dritt-Welt-Land.“

Straßen voller Schlaglöcher, wilde Müllhalden, stundenlange Stromausfälle.
Die Behörden sind entweder untätig oder abwesend, die rasche Entwicklung Gurgaons überfordert sie; Bundesstaat, Bezirk, Kommune rangeln um Kompetenzen. Deshalb werden die Bürger aktiv: Darshan Singh zeigt uns eine Skizze der Regenwassersammelanlage, die er entwickelt hat. Singh ist Ingenieur, hauptberuflich erschließt er Erdölvorkommen.

Ohne die Anlagen, die er sich nebenbei ausgedacht hat, würden die Wassermassen, die während der Regenzeit über Gurgaon niedergehen, weite Teile der Stadt überschwemmen, denn eine Kanalisation gibt es nicht. Im Schatten der modernen Paläste existieren derweil jene, die sie errichten und in Schuss halten. Rund eine Viertelmillon Menschen leben in den Slums von Gurgaon:

„Hier stand überhaupt nichts, nur Dschungel,“

erinnert sich Muhammad, der vor fast zwanzig Jahren nach Gurgaon kam und sich als Tischler auf den ersten Baustellen verdingte.

Heute ist er Mitte vierzig und weil die Arbeit auf den Wolkenkratzern ihm nicht mehr bekommt, strampelt Muhammad sich inzwischen als Rikscha-Fahrer ab.

Ohne ihn und seine Kollegen käme kaum ein U-Bahn-Pendler in Gurgaon rechtzeitig zur Arbeit. Busse, Straßenbahnen – Fehlanzeige. Trotzdem streicht Muhammad im Monat grade mal 8.000 Rupien ein – rund 150 Euro. Das reicht für’s täglich Brot mit Linsen für seine sechsköpfige Familie und für die Miete eines Verschlags aus Wellblech und Plastikplanen in einem der zahllosen Slums in Sichtweite von Cyber City, der modernsten Büroanlage Gurgaons.

Der Mann, auf dessen Grund dieser Slum steht, hat einen Brunnen für die 400 Menschen bohren und einen Stromleitung abzweigen lassen, doch Toiletten und Abwasserkanäle gibt es nicht. Das Versagen der Behörden, der Mangel an Stadtplanung treffe die Unterpriviligierten am stärksten, sagt Ingenieur Darshan Singh:

„Es war doch klar, dass es hier auch Fahrer, Wachen und so weiter geben würde, aber dafür wurde nicht geplant. Also errichteten diese Leute Slums zum Leben, nun sagt die Regierung, das sei nicht genehmigt und will sie abreißen lassen. Ein Mangel an Stadtplanung ist das. – Die Slums sind unschön. Aber die Menschen darin sind auch Inder und sie müssen irgendwo leben.“

So ist Gurgaon auch Symbol eines Wachstums, an dem nicht alle Bürger gleichermaßen teilhaben. Die Stadt breitet sich jedoch weiter aus. Harinder Walia gehört zu den Bauunternehmern, die Gurgaon erschlossen haben. Seine Firma baut Wohnanlagen, grade hat sie einen Komplex mit 600 Häusern schlüsselfertig übergeben.

Mehrere Millionen Euro kann so eine Villa kosten. Käufer gibt es genug. Und Walia kennt die Behörden, die nötigen Genehmigungen erhält er schnell:

„Wir nehmen alle Abkürzungen, das dauert ungefähr eine Woche. Wir zahlen ja auch unter dem Tisch.“

Ein Mittelsmann besorgt das, ohne ihn und ohne zu schmieren würde man sich die Füße wund laufen bei der Bürokratie, sagt der Bauunternehmer. Die meisten Menschen im Lande quittierten Korruption lange mit einem resignierten Achselzucken. Ob Bettler, Bauer oder Unternehmer – allzu übermächtig erschienen die Bürokraten. Doch meldet sich nun auch in Indien der Wutbürger zu Wort.

Überall im Lande wurde im Frühjahr und Sommer gegen Bestechung und Vetternwirtschaft demonstriert. In Neu Delhi wollte der prominente Sozialreformer Anna Hazare mit einem Hungerstreik umfassende Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung erzwingen. Vor vierzig Jahren wurde die erste Vorlage für einen Ombudsmann ins Parlament eingebracht, aber nie hat eine Regierung sich für die Verabschiedung engagiert, so Hazare. Der Protest des 72-Jährigen hat den Nerv der meisten Inder getroffen.

Es war allerdings nicht der ganz alltägliche Filz, der die Menschen auf die Barrikaden trieb. Auslöser der Protestwelle war eine Serie von Korruptionsfällen, in die Minister und Politiker verwickelt sind. Von der regierenden Kongresspartei und ihren Verbündeten ebenso wie von der Opposition. Massiver Immobilienbetrug, die Vergabe lukrativer Mobilfunkfrequenzen zu Spottpreisen und überteuerte Bauaufträge für die Commonwealth-Spiele.

„Diese Vorfälle beschädigen natürlich unser Image zuhause und in der Welt",“

gesteht Premierminister Manmohan Singh.

Singh gilt als integer, doch bis heute hat Indiens Regierungschef nicht erklärt, wie viel er über die zweifelhaften Praktiken wusste. Korruption durch Unterlassung legte dieser Demonstrant dem Premierminister deshalb zur Last. Korruption ist für Unternehmer in Indien ein ebenso großes Hindernis wie Bürokratie, Inflation, Landstreitigkeiten.

Korruption verhindert aber auch soziale Gerechtigkeit, denn sie benachteiligt die große Masse der Inder, jene nämlich, die eine Existenz rund um die Armutsgrenze führen. Vor allem sie könnten von einem ambitionierten Projekt der indischen Regierung profitieren.

Gedränge vor einem Postamt in Neu Delhi. Dutzende wollen an diesem Mittag eine persönliche Identitätsnummer, kurz UID, beantragen. „Dauert nicht lange, höchstens eine halbe Stunde“, sagt Vijay Singh vom Taxistand um die Ecke.

Unter surrenden Ventilatoren tippen zwei Angestellte fleißig an ihren Rechnern. Sie erfassen jeden Tag die Daten von bis zu 150 Personen. 20.000 solcher Work Stations gibt es mittlerweile in ganz Indien. Schüchtern beantwortet Poonam, Köchin in einem der umliegenden Häuser, die Fragen: Name, Geburtsdatum, Geschlecht gibt sie zu Protokoll. Auch ihre Mobilfunknummer. Dann drückt sie eine Fingerkuppe nach der anderen auf einen Sensor und blickt anschließend in eine Digitalkamera, die Gesicht und Iris speichert. Ihre Angaben werden an eine zentrale Datenbank übermittelt. In ein paar Wochen erhält Poonam eine Chipkarte mit einer zwölfstelligen Ziffernfolge, ihre persönliche Identitätsnummer, die UID.

„Ich habe meine Karte schon“, sagt Mukesh, einer der beiden, die hier die Daten eingeben. Die Karte wird mal sehr nützlich sein, davon ist er überzeugt.

„Es ist international das erste staatliche Online-Ausweissystem“, beschreibt Nandan Nilekani das Projekt, das er seit zwei einhalb Jahren leitet. Nilekani ist ein ungewöhnlicher Behördenchef, er gehört zu den Gründern von Infosys, einem erfolgreichen indischen Informatikkonzern. Auf Wunsch der Regierung erhält Indien unter Regie des einstigen IT-Moguls nun die größte biometrische Datenbank der Welt.

Die Registrierung ist freiwillig, doch angepeilt wird die Erfassung jedes einzelnen Bürgers. Alle schätzungsweise 1, 2 Milliarden Inder sollen einen einheitlichen Ausweis für ganz Indien erhalten. Bisher sind zwar alle möglichen Bescheinigungen im Umlauf – Geburtsurkunden, Kastenzugehörigkeitsnachweise, Steuerkarten, Führerscheine – sie gelten jedoch nicht überall. Zum Nachteil der Bürger.

Mustafa zog vor vielen Jahren in die Wirtschaftswunderstadt Gurgaon. Zuhause im Bundesstaat Westbengalen gab es keine Arbeit. In Gurgaon bringt er die Familie als Tischler durch und schickt auch alle fünf Kinder in die Schule. Mit einem Familieneinkommen von umgerechnet 50 Euro im Monat gelten Mustafa und die seinen aber als arm. Das billige Kochgas, die subventionierten Lebensmittel, die ihm eigentlich zustehen, bekommt er aber nicht. Denn der Sozialausweis aus seiner Heimat Westbengalen wird in Gurgaon nicht anerkannt. Sein Wählerausweis übrigens auch nicht. Für die Behörden existiert er nicht. Unter Indiens rund 100 Millionen Wanderarbeitern gibt es viele wie Mustafa: Ohne Unterlagen, mit denen sie ihre staatlichen Ansprüche an jedem Ort, in jedem Bundesstaat durchsetzen könnten. Die UID soll das ändern.

Sie soll den Bürgern den Umgang mit den Behörden erleichtern, eben bei der Beantragung von Sozialleistungen, aber auch von Pässen, Grundbucheinträgen und anderem. Und das elektronische Ausweissystem soll die Korruption in der öffentlichen Verwaltung Indiens beschneiden.

Der Staat als Dienstleister für seine Bürger statt als Bereichungsquelle seiner Beamten. Das ist nichts weniger als eine Revolution. Rund 110 Millionen Inder sind seit Anfang 2010 registriert worden, ein Jahrzehnt dürfte es dauern, bis alle erfasst sind.

Bis dahin dürfte längst klar sein, ob die Technologie des 21. Jahrhunderts das Verhältnis von Bürger und Staat in der größten Demokratie der Welt tatsächlich auf eine moderne, gleichberechtigte Basis stellen kann. Ob in ihrem Zuge bessere Infrastruktur und verantwortungsbewusstes Regieren Einzug halten und Indiens Entwicklung zugunsten aller im Lande vorantreiben. Nandan Nilekani sagt es in der Sprache der Technologie, mit deren Hilfe er den indischen Staat verändern will:

„"Wir müssen den Menschen besser Plattformen geben. Die Menschen sind ehrgeizig, fleißig, erfinderisch. Aber sie leiden, weil das System nicht funktioniert. Wenn man ihnen Plattformen zur Verfügung stellt – Identitätsplattformen, ein besseres Bildungswesen, ein besseres Gesundheitswesen – dann werden die Menschen selbst die Initiative ergreifen.“
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