Crescendo der Hoffnungslosigkeit

08.01.2009
Der türkische, 1948 verstorbene Autor Sabahattin Ali schrieb mit "Die Madonna im Pelzmantel" einen Roman über das Berlin in den 20er Jahren geschrieben und über Menschen, die das Vertrauen zu sich und zu anderen verloren haben. Die beiden Hauptfiguren, Maria und Efendi, verlieren ihre Liebe, weil sie nicht genug daran geglaubt haben.
In Sabahattin Alis Roman "Die Madonna im Pelzmantel" leiden alle Hauptfiguren an Hüzün, der türkischen Form kollektiver Melancholie - auch die schöne Deutsche. Sabahattin Ali lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass seine ergreifende Liebesgeschichte nicht gut ausgeht. Nach beinahe behäbigem Beginn steigert sich der Roman zu einem Crescendo der Hoffnungslosigkeit und des Scheiterns.

Vor zu viel Sentimentalität bewahrt das Buch eine Rahmenhandlung in Ankara: Anfangs verachtet der namenlose Ich-Erzähler den zurückhaltenden Arbeitskollegen Raif Efendi. Dann lernt er dessen Gleichmut gegenüber den Demütigungen in der Firma und zu Hause bewundern.

Als Efendi ernsthaft erkrankt, bringt der Erzähler ihm die Habseligkeiten aus dem Büroschreibtisch nach Hause. Ein Schulheft ist darunter, das Efendi verbrennen will. Der Erzähler verhindert das und darf die Aufzeichnungen für eine Nacht mitnehmen. Es ist die letzte Nacht Raif Efendis.

So, als zöge im Geiste des Sterbenden noch einmal sein Leben vorbei, folgen nun die Eintragungen im Schulheft. Unter dem Datum vom 20. Juni 1933 erinnert sich Efendi an die Liebe seines Lebens im Berlin Anfang der zwanziger Jahre. Weil die Rahmenhandlung in Ankara zu Beginn zehn Jahre später, Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre angesiedelt ist, steigt der Roman in einer Kaskade von Dekaden in die Vergangenheit hinab.

Es sind wohl auch eigene Erlebnisse, auf die Sabahattin Ali, 1906 geboren und auf der Flucht ins Exil an der bulgarischen Grenze ermordet, in der 1943 erschienenen "Madonna mit dem Pelzmantel" zurückkommt: Er hat in Berlin und Potsdam studiert und danach in der Türkei Deutsch gelehrt. Seine satirische Ader, die ihn 1932 wegen eines Gedichts über Atatürk für ein Jahr hinter Gitter brachte und 1944 das Satire-Blatt "Markopasa" herausgeben ließ, prägt den Roman jedoch nicht.

Berlin wird nach dem Ersten Weltkrieg von der Hyperinflation erschüttert. Efendi stolpert zwischen demobilisierten Soldaten, verarmten Bürgern und verzweifelt lebenslustigen Bohemiens umher, bis er in einer Galerie auf das Selbstporträt einer jungen schönen Frau im Pelzmantel stößt. So sehr fasziniert es ihn, dass er die Malerin nicht erkennt, als sie leibhaftig vor ihm steht.

Maria ist auch ohne modischen Bubikopf eine Vertreterin des selbständigen Frauentypus jener Zeit. Illusionslos, ja ruppig bietet sie dem jungen Türken die Freundschaft an, weil sie ihren viel stärkeren Gefühlen ebenso misstraut wie der schüchterne Türke. Als sich beide endlich ihre Liebe gestehen, zwingt der Tod des Vaters den jungen Mann zur Rückkehr in die Türkei.

Die erkrankte Maria soll nach ihrer Genesung nachkommen. Doch allerlei Probleme und Efendis Passivität verhindern es, und nach einem Jahr bleiben die wöchentlichen Briefe der Geliebten plötzlich aus. Der verzweifelte Efendi ahnt nicht, warum.

Sabahattin Ali hat einen Roman über Menschen geschrieben, die das Vertrauen zu sich und zu anderen verloren haben. Maria und Efendi sind Enttäuschte und Verängstigte, die nicht an ihre Liebe glauben und sie daher verlieren.

Alis Zeitgenossen werden darin eigene und nationale Erschütterungen durch Atatürks gewaltiges Modernisierungsprogramm erkannt haben, gespiegelt in einem Berlin, das nach dem Ersten Weltkrieg jeden Halt verloren hat. So schenkt das Buch heutigen Lesern eine dreifache Perspektive: auf die damalige Türkei, das damalige Berlin und eine zeitlose und ergreifende Liebesgeschichte.

Rezensiert von Jörg Plath

Sabahattin Ali: Die Madonna im Pelzmantel
Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen
Dörlemann Verlag, Zürich 2008
256 Seiten, 19,80 Euro