Credo eines Vertriebenen

Rezensiert von Helga Hirsch · 05.05.2006
Herbert Hupka ist eine Institution, eine Person der ersten Stunde, die wie keine andere mehr die Tradition des Bundes der Vertriebenen seit ihren Anfängen verkörpert. 1947 stand er an der Wiege der Landsmannschaft Schlesien, von 1968 bis 2000 führte er sie als Bundesvorsitzender, bis heute ist er Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat.
Dem kommunistischen Polen – und auch manchem einheimischen Linken - galt Hupka als Galionsfigur eines aggressiven westdeutschen Revanchismus, der auf Revision der Oder-Neiße-Grenze zielte und einer Verständigung mit dem Nachbarn im Wege stand. Inzwischen ist er jedoch zum Ehrenbürger seiner oberschlesischen Heimatstadt Ratibor ernannt worden – und es stellt sich die Frage: Hat Hupka sich geändert? Oder hat sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit über ihn geändert?

Einerseits hat Hupka die Grenzziehung an Oder und Neiße nie gut geheißen. Er bestand weiter auf einer Korrektur, als Willy Brandt im Zuge der neuen Ostpolitik 1970 eine de facto Anerkennung aussprach, und er kritisiert den Grenzvertrag und den Nachbarschaftsvertrag mit Polen von 1990 bis heute als "Unrechtsverträge", auch wenn er ihre völkerrechtliche Verbindlichkeit inzwischen akzeptiert. Insofern blieb Hupka seinen Positionen treu, weswegen ihn die einen als prinzipienfest loben und die anderen als unbelehrbar tadeln.

Anders aber als die kommunistische Propaganda unterstellte, hat Hupka nie eine Korrektur der Grenze mit Gewalt angestrebt. Seit 1989 das Einreiseverbot für ihn fiel und er die neue Freizügigkeit für Besuche in die alte Heimat nutzte, konnte er die neuen Bewohner Schlesiens auch persönlich davon überzeugen. Insofern haben ihn viele Polen in neuem Licht entdeckt und seine Dialogbereitschaft schätzen gelernt, für die Hupka bei einem Großteil seiner deutschen Landsleute noch werben muss.

"Die Wiederbegegnung mit der Heimat während des so genannten Heimwehtourismus ist schön und gut, aber das reicht für eine Vergegenwärtigung Schlesiens von heute mit dem Blick auf morgen nicht aus. Man muss sich kundig machen, um zu erfahren und zu wissen, wie sind die politischen Verhältnisse, was tut sich überhaupt bei unserem Nachbarn."

Immer noch gibt es Vertriebene, die sich ausschließlich für die deutsche Vergangenheit Schlesiens interessieren und über die augenblicklichen polnischen Zustände die Nase rümpfen. 1957 konnten die Schlesier auf ihrem Deutschlandtreffen unter dem Motto "Schlesien lebt" zwar noch eindrucksvoll demonstrieren, dass schlesischer Dialekt, schlesische Trachten, schlesische Lieder und Rezepte einen selbstverständlichen Bestandteil ihrer Alltagskultur auch in Baden-Württemberg oder Niedersachsen bildeten. Doch heute klingt der Buchtitel "Schlesien lebt" eher wie ein warnendes Ausrufezeichen - wie eine Aufforderung, den Gang der Ereignisse noch aufzuhalten.

"Es besteht die Gefahr, dass wir, die Deutschen, Schlesien verleugnen, vergessen, Schlesien zur 'terra incognita' erklären, als fern, fremd und unbekannt behandeln."

Drei Generationen haben Schlesien bereits nicht mehr als Teil des deutschen Staates erlebt. Und viereinhalb Jahrzehnte lag Schlesien nahezu unzugänglich hinter dem Eisernen Vorhang. Schlesien – das weiß Hupka – wird nur ausstrahlen und lebendig bleiben, wenn Vergangenheit und Gegenwart sich verbinden und Deutsche und Polen die Pflege und Gestaltung dieses Landstriches als gemeinsame Aufgabe betrachten.

"Schlesien existiert als geistiger Nährboden und dank seiner kulturellen Bedeutung, gerade auch mit dem Blick in die Vergangenheit, aber die Gegenwart will dem nicht nachstehen. Das Wort für Schlesien heißt Präsens."

In über vierzig Kommentaren, einer Art Credo, unterbreitet Hupka seine Standpunkte in den noch strittigen Fragen: zur Vertreibung der Deutschen, zum Recht auf Heimat, zur Beutekunst, zur deutschen Minderheit in Polen, zum Umgang mit dem deutschen Erbe, zum Zentrum gegen Vertreibungen - und er kritisiert nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in den letzten zwei, drei Jahren immer und immer wieder:

"Das deutsch-polnische Verhältnis leidet darunter, dass fast schon mit einer Art von Wollust Schönwetterberichte offiziell und selbstredend auch durch die Medien verbreitet werden ... Kritische Beobachter haben zu Recht von Zeremonien der Beschwörung gesprochen. Sollte es der Wirklichkeit entsprechend irgendwelche Misstöne geben, so darf darüber noch nicht einmal im höflichen Ton und andeutend geredet werden. Das deutsch-polnische Verhältnis genießt uneingeschränkte und unbemessene Schonfrist."

Hupka hat sicher Recht, wenn er die Gutmenschen in Deutschland kritisiert, weil sie heikle Themen oft aus dem Dialog ausklammern, lieber "den Kopf einziehen", der polnischen Befindlichkeit – etwa im Fall des "Zentrums gegen Vertreibungen" – weit mehr Berechtigung einräumen als der deutschen, kurz: weil sie gegenüber den Polen auf schmerzliche Kritik verzichten und sich die Darlegung des eigenen Standpunkts nicht selten versagen, um keinen Missmut zu erzeugen. Dieser oberflächliche und letztlich unehrliche Umgang hat uns in eine Sackgasse geführt. Aber Hupkas Alternativvorschlägen mag man sich auch nicht anschließen. Denn - der Ton macht die Musik. Und Hupkas Ton gegenüber den Polen ist oft noch von einem tiefen Groll geprägt.

"Wie steht es um die gegenseitige Geschichtsschreibung? ... Warum werden Ortsgeschichten ... als polnische Geschichten umgeschrieben? Warum konnte der Oppelner Erzbischof auf dem Annaberg den Satz sprechen: Die Deutschen werden als Minderheit geduldet, aber sie werden nicht anerkannt? Warum hat die deutsche Minderheit in Oberschlesien so große Angst, die Bestimmungen des Minderheitengesetzes in die Wirklichkeit umzusetzen und anzuwenden? Wie ist es um das Problem der so genannten Beutekunst bestellt?"

Hupka will zwar nicht anklagen – und tut es dennoch: Noch habe sich die polnische Regierung nicht für Vertreibung und Enteignung entschuldigt. Noch seien die Schuldigen, die Deutsche nach dem Krieg in den Lagern Lamsdorf und Schwientochlowitz zu Tode quälten, nicht verurteilt worden. Noch habe man in Schlesien keine zweisprachigen Ortsnamen erlaubt.

Hupka will auch nicht aufrechnen. Und kann sich trotzdem nicht zurückhalten, bei den vertriebenen Polen von einer "geregelten Zwangsumsiedlung", bei den Deutschen hingegen von einer "brutalen Vertreibung" zu sprechen. Wenn Hupka im Interesse der Zukunft Schlesiens nach polnischen Verbündeten sucht, warum treibt er sie durch Anklagen dann sofort auf Distanz?

Lobende Worte findet Hupka einzig und allein für den Oppelner Bischof Alfons Nossol und für Maciej Lagiewski, den Leiter des Breslauer Stadtmuseums. Ansonsten reibt er sich an ideologischen Relikten aus der Vergangenheit, an dem, was noch starr, offen nationalistisch oder ganz einfach dumm ist. Zweifellos existiert auch das. Zweifellos lassen sich immer noch viele Belege für Halbwahrheiten, Mythologisierungen und Geschichtsklitterungen finden. Doch entgegen dem Eindruck, den sein Buch vermittelt, schütteln gerade die Polen in Schlesien alte Doktrinen zunehmend ab. Auch deutsche Geschichte wird integriert, auch polnische Autoren nehmen sich heikler Themen wie der Vertreibung an. Doch Schriftsteller wie Olga Tokarczuk, Marek Krajewski oder Miroslaw Spychalski, die im letzten Jahrzehnt zum Beispiel über das deutsche Breslau aus der Vorkriegszeit und die deutsch-polnischen Beziehungen schrieben, kommen bei Hupka gar nicht vor. Statt mit dem Finger immer nur auf andere zu zeigen, sollte Hupka etwas selbstkritischer auch seine eigene Bereitschaft zur unvoreingenommenen Wahrnehmung des Nachbarn überprüfen. Fast alle polnischen Namen im Buch sind falsch geschrieben.

Herbert Hupka: Schlesien lebt
Offene Fragen – kritische Antworten
Langen Müller Verlag, München 2006