Crashkurs in Chuzpe

Rezensiert von Pieke Biermann |
Israel Zangwill gilt als "Dickens der anglo-jüdischen Literatur", ein Urteil, dem er in "König der Schnorrer" mehr als gerecht wird. Darin versucht der sephardische Jude Manassah dem aschkenasischen Juden Grobstock Geld abzuschwatzen und verheiratet am Schluss seine Tochter, wofür Grobstock auch noch zahlt. Manassahs Schwiegersohn geht bei ihm in die Lehre und erhält einen Schnellkurs in gewitztem Schnorren.
Was ist ein Schnorrer - diese vielleicht berühmteste Figur des real-existierenden Judentums in der Diaspora? Die kürzeste Antwort gibt ein Witz: Um die letzte Jahrhundertwende will ein Schnorrer von Rothschild eine Kur in Karlsbad bezahlt haben. Rothschild fragt zurück: "Darf’s auch ein etwas billigeres Heilbad sein?" "Auf keinen Fall", kontert der Schnorrer, "für meine Gesundheit ist mir nichts zu teuer."

Was ein Schnorrer-König ist, beantwortet Israel Zangwill auf 220 Seiten. Erbaulich in jedem Wortsinn: lehrreich, unterhaltsam, elegant. In sechs Kapiteln leichtfüßiger, "schnurrig" anmutender Prosa, die im Stil leise an Sternes "Tristram Shandy" erinnern, führt er uns mitten hinein in ein längst vergangenes Milieu, das alles andere als versunken ist. London in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Genauer: seine jüdische Community, wie man heute sagt. Also das East End.

Manasseh Bueno Barzillai Azevedo da Costa, schon am Namen unschwer zu erkennen als Sepharde, als Nachkomme der durch die Inquisition von der iberischen Halbinsel vertriebenen Juden, ist Schnorrer und nimmt ausgerechnet Joseph Grobstock aufs Korn, der ebenso unschwer als Aschkenase zu erkennen ist, als Nachkomme der vor den Pogromen geflüchteten Juden aus Mittel- und Osteuropa.

Nun muss man wissen, dass sich Sephardim und Aschkenasim gegenseitig nicht ausstehen können - die Sephardim halten sich grundsätzlich für die Kultivierteren und die Aschkenasim für Pöbel. Und man muss wissen, dass Wohltätigkeit, also milde Gaben für die Armen, ein Grundpfeiler traditioneller jüdischer Moral ist. Wer gibt, ehrt sich quasi selbst. Weshalb Schnorren eben auch nicht einfach Betteln ist, sondern ein höchst ehrbares Metier, ja, nach Manassehs talmudisch geschliffener Dialektik, sogar entschieden gottgefälliger als etwa Direktor der Ostindischen Handelsgesellschaft.

Eben das ist nämlich Grobstock. Und obendrein einer, der an Schnorrern eine gewisse sadistische Neigung auslebt. Manasseh braucht 30 Seiten, um ihn komplett zu degradieren, vor seinem (natürlich nicht-jüdischen) Diener zu blamieren und an den Rand des Schleimschlags zu treiben. Aber das ist erst der Anfang.

Am Ende der turbulenten Ereignisse wird er die hochnäsige sephardische Gemeinde dazu gebracht haben, seine Tochter Deborah mit einem - horribile dictu! - Aschkenas zu verheiraten, und Grobstock wird dafür zahlen. Der Weg dahin ist "angewandte Schnorrologie", denn Manasseh bildet seinen zukünftigen Schwiegersohn Jankele in den Feinheiten der Profession aus. Ein atemberaubender Crashkurs in Chuzpe, Kasuistik, Spitzfindigkeit, kurz: Mundwerk.

Mit einem Happy End, das an "A Christmas Carol" erinnert und erklärt, warum Israel Zangwill als "Dickens der anglojüdischen Literatur" gefeiert wird: Jankele kriegt seine Deborah, die sephardische Gemeinde einen unverhofften Batzen Geld dank eines gigantischen Spekulationsgewinns von Grobstock, dem Tedesco, Manasseh schließlich, "der fortan allgemein anerkannt wurde und hiermit in die Überlieferung eingeht als König der Schnorrer", bekommt eine Lebensrente.

Und Israel Zangwill (1864-1926) hat wieder einmal seinen großen Traum fiktiv realisiert: Gewitzter Pragmatismus bricht die Macht der Dogmatiker.

"Der König der Schnorrer" ist genau deshalb das ideale "Buch zur Weltlage" - ideal für Zug und Flug dank des kleinen, feinen Manesse-Dünndruck-Formats. Es hat ein informatives Nachwort über Zangwill und das Londoner Judentum im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert von Herbert Tauber und ist von Trude Fein auch fein übersetzt.


Israel Zangwill: Der König der Schnorrer
Aus dem Englischen von Trude Fein
mit einem Nachwort von Herbert Tauber
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich/München 2006
250 S., 17,90 € Leinen; die Lederausgabe: 49,90€