Courbet mit all seinen Widersprüchen

05.05.2011
Gustave Courbets monumentales Gemälde "Das Atelier" gilt als ein Schlüsselbild des 19. Jahrhunderts. Werner Hofmanns zieht in seinem Werk ebenso elegant wie belesen alle philosophischen und kunsthistorischen Register, um das Rätsel Courbet zu entschlüsseln.
War er ein Parteigänger der Entrechteten? Oder ein Träumer der Geschichte? Bei der jüngsten Kunst-Debatte im deutschen Feuilleton flogen die Fetzen. Die "Entschärfung seines Projekts" monierte die Frankfurter Kunstprofessorin Isabelle Graw, Herausgeberin der kritischen Zeitschrift "Texte zur Kunst", nachdem sie die Ausstellung "Courbet – Ein Traum der Moderne" in der Frankfurter Schirn Ende 2010 gesehen hatte. Und Klaus Herding, der Kurator der Retrospektive, verteidigte seine surreale Deutung des großen Künstlers: "Versenkung als Potenzial". Es war bemerkenswert, wie aktuelle Kunst-Denker, die sich als fortschrittlich verstehen, an einem Toten aus dem 19. Jahrhundert aufrieben. Am 31.12. 1877, sechs Jahre nach der Niederwerfung der Pariser Commune, deren Kunstkommissar er gewesen war, starb Gustave Courbet im Schweizer Exil, nur 58 Jahre alt.

In diese ideologische Front schlägt nun Werner Hofmann die Schneise eines dritten Weges. Der 1928 geborene Kunsthistoriker, von 1969 bis 1990 Direktor der Hamburger Kunsthalle, erinnert in einer kleinen, aber brillanten Studie über "Das Atelier", ein 1855 geschaffenes Schlüsselbild des Malers, an Courbets Selbstcharakterisierung von der "allégorie réelle". Und findet in Charles Baudelaires Begriff von der "idée hétéroclite", der "uneinheitlichen Idee", eine theoretische Referenz, die das zu Lebzeiten Courbets heftig umstrittene Bild besser erklärt als der "grobschlächtige" Realismus, für den es Isabelle Graw reklamiert. Denn die Dreiergruppe aus halb nackter Frau und Kind, die darauf neben dem Künstler vor der Leinwand steht, hebt sich markant von den leblosen Gestalten im Halbdämmer links und rechts davon ab. Und auch die Juralandschaft auf der Leinwand leuchtet so symbolisch, dass die "inneren Bedeutsamkeit", die Hofmann dem Bild unterschiebt, offensichtlich wird. Diese charakteristische Mischung aus Allegorie und Realität findet Hofmann in fast allen Bildern Courbets.

Der Grandseigneur der Kunstgeschichte zieht von Karl Marx bis Erwin Panofsky ebenso elegant wie belesen alle philosophischen und kunsthistorischen Register, um das Rätsel Courbet zu entschlüsseln. Er deutet das Atelierbild als verkapptes Triptychon und verfolgt die Spuren dieses Vorbilds bis hin zu Max Ernst und Werner Tübke. Das schmale Bändchen ersetzt ganze Courbet-Bibliotheken.

Hofmann definiert Courbet nicht aus der gesellschaftskritischen Tradition heraus. Er nimmt ihn nur so widersprüchlich, wie er war. Courbet selbst bezeichnete sich einmal als Realisten, um sich kurz danach wieder heftig gegen dieses Etikett zu wehren. Nach Hofmanns luzider Analyse steht der Maler nicht mehr als das "Schlachtross des Sozialismus" da, als den ihn der Frankfurter Kunstkritiker Eduard Beaucamp aufgezäumt sah. Aber auch als nicht als jener Träumer und Versöhner der Gegensätze, wie ihn der Kurator Herding sah.

Der Wirkung seines Werks muss das keinen Abbruch tun. Courbet sah nur illusionslos, dass er als Künstler in einer Szenerie gesellschaftlichen Zerfalls nach der Restauration in Frankreich in der "dritten Position" sitzt: isoliert und allein. Wenn das kein Realismus ist.

Besprochen von Ingo Arend

Werner Hofmann: Das Atelier: Courbets Jahrhundertbild
Verlag C. H. Beck, München 2010
Mit 22 Farb- und 9 Schwarzweißabbildungen
126 Seiten, 14 Euro