Coronapolitik

Kommentar: Der Übereifer der Behörden

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Eine violette medizinische Maske liegt auf einer Straße, während im Hintergrund die Altstadt von Mühldorf am Inn zu sehen ist.
"Mich hat schon damals schockiert, wie reibungs- und widerstandslos die deutsche Bürokratie selbst die unsinnigsten Maßnahmen umgesetzt hat", sagt René Schlott. © picture alliance / dpa / Matthias Balk
15.04.2024
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Während der Corona-Pandemie haben die Verwaltungen oft mehr getan als sie mussten, findet der Historiker René Schlott. Er spricht von "administrativem Übereifer". Dass es offenbar wenig Interesse daran gibt, das aufzuarbeiten, schockiert ihn.
Die pandemisch-virologische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ruhte in den Jahren von 2020 bis 2023 im Wesentlichen auf vier Säulen: der Politik, den Medien, der Wissenschaft und der Verwaltung. Während die ersten drei Bereiche bereits im Fokus der Bemühungen um die Aufarbeitung der Coronajahre stehen, ist es um die Rolle der Verwaltung bei der Umsetzung der tiefgreifendsten Grundrechtseinschränkungen in der bald 75-jährigen Geschichte des Grundgesetzes bislang still geblieben.

Kommunale Verwaltungen übertrafen Vorgaben aus Berlin

Dabei wäre die Coronapolitik ohne fleißige und gehorsame Beamtinnen und Beamte auf allen Ebenen und ohne ihre detaillierten und manchmal auch kreativen Verordnungen nicht möglich gewesen. Mehr noch – oft waren es die kommunalen Verwaltungen, die mit besonderen Regelungen, wie etwa lokalen Verweilverboten, noch über die Vorgaben aus Berlin hinausgingen. So kam die erste Maskenpflicht nicht etwa auf Bundes- oder Länderebene, sondern in Jena Anfang April 2020 auf Initiative des dortigen FDP-Oberbürgermeisters.
Bei der Umsetzung der Pandemiepolitik waren Gesundheits-, Ordnungs- und Schulämter und andere Behörden auf Landes- und Kommunalebene äußerst beflissen. Aus den Amtsstuben heraus wurde ohne Zögern in privateste Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen: Man denke nur zurück an die harschen behördlichen Aufforderungen zum sofortigen Verlassen von Zweitwohnsitzen und an die akribischen Regelungen, wer sich mit wie vielen Angehörigen aus anderen Haushalten treffen durfte.
Und das Alles mit dem Segen der Justiz, denn die Verwaltungsgerichte machten ihrem Namen alle Ehre und entschieden meist zugunsten der Verwaltung und verstanden sich weniger als Anwälte der von den Verwaltungsmaßnahmen betroffenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Erinnert sei hier nur an die vielen Demonstrationsverbote oder die kuriose Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Münster vom Januar 2021 wonach Hundefriseure öffnen durften, während das Frisieren von Menschen weiter verboten blieb.

Andere Länder haben Bußgelder zurückgezahlt und Verfahren eingestellt

Während in anderen Ländern alle aufgrund irgendwelcher Maßnahmenverstöße erhobenen Bußgelder zurückgezahlt oder noch offene Verfahren eingestellt wurden, laufen in Deutschland noch Dutzende solcher Verfahren. Dabei hatte eine vom Bundestag eingesetzte Expertenkommission zur Evaluierung der Coronapolitik bereits Mitte 2022 festgestellt, dass für kaum eine der getroffenen Maßnahmen, ja nicht einmal für die monatelangen Lockdowns, ausreichende Belege für deren Wirksamkeit vorlagen.
Der für die Politik, ihre ausgesuchten wissenschaftlichen Berater und ihre eifrigen medialen Unterstützerinnen niederschmetternde Schlüsselsatz in dem Abschlussbericht der Kommission lautete: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar.“
Mich hat schon damals schockiert, wie reibungs- und widerstandslos die deutsche Bürokratie selbst die unsinnigsten Maßnahmen umgesetzt hat, auch wenn allen hätte klar sein müssen, dass diese gegen elementare Verfassungsgrundsätze wie die Menschenwürde verstießen. Etwa dann, wenn Kranke und Alte in Pflegeheimen und Krankenhäusern aufgrund der von anderen Menschen erdachten Corona-Bestimmungen allein sterben mussten oder wenn Eltern unter Androhung eines Bußgeldes von 25 000 Euro in behördlichen Schreiben aufgefordert wurden, Kleinkinder für zwei Wochen in einem Zimmer von der übrigen Familie zu isolieren.
Noch schockierender finde ich allerdings, dass es bis heute wenig Interesse daran gibt, das Verwaltungshandeln während der Pandemie aufzuarbeiten - und auch offenbar wenig Selbstkritik aus den Behörden. Dabei haben sie oft mehr getan, als sie mussten. Hier tat sich die verhängnisvolle Eigendynamik eines administrativen Übereifers auf, der innerhalb kürzester Zeit zur bürokratischen Pandemiemaschinerie mutierte.

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Er wurde 1977 in Mühlhausen geboren und studierte nach einem Diplom der Betriebswirtschaft Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. 2011 wurde er mit einer kommunikationshistorischen Arbeit an der Universität Gießen promoviert.

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