Coronakrise und Transformation

"Eine historisch einmalige Chance"

03:45 Minuten
Illustration: Ein Geschäftsmann steht vor drei verschiedenen Wegen.
Statt zum Vorherigen zurückzukehren, sollten wir die Zeit jetzt nutzen, um nachhaltige Lösungen für die vorherigen Krisen zu finden, meint Svenja Flaßpöhler. © imago / Maxim Usik
Von Svenja Flaßpöhler · 03.05.2020
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Zurück zur Normalität: Dieses Ziel leitet uns in der Pandemie. Das ist die falsche Losung, meint Svenja Flaßpöhler. Vielmehr sollten wir die Viruskrise als Möglichkeit begreifen, gesellschaftlich umzusteuern.
Viel wird dieser Tage diskutiert. Lockerung ja, Lockerung nein; Maske ja, Maske nein; Schule auf, Schule zu? Sagen Sie uns Ihre Meinung! Die ewige Wiederkehr gleicher Themen auf der Bühne der Politik langweilt zu Tode, die Begrenztheit des Denkens: Schwer enttäuschend. Selbst der Opposition fällt nicht mehr ein, als klare Kriterien für die Corona-Maßnahmen zu fordern oder 250-Euro-Gutscheine für die Wiederankurbelung des Einzelhandels vorzuschlagen.
Was wir aber wieder einmal vergessen, ist die Zukunft. Wieder einmal lassen wir uns von hinten drücken, aber nicht von vorne ziehen. Wir reagieren, anstatt zu agieren, lassen uns, wieder einmal, vom Sachzwang regieren. Das Virus gibt den Takt vor, wir tanzen nach seiner Pfeife und sind vor allem an einem interessiert: an einer baldigen Wiederherstellung dessen, was für uns die Normalität war.

Die alte Normalität ist tödlich

Sicher müssen hier und jetzt Maßnahmen ergriffen werden, um die virale Gefahr zu bannen. Mindestens ebenso dringend aber ist es, diese Krise zu nutzen, um aktiv das Kommende zu gestalten. Denn klar ist doch: Diese Pandemie hat uns mal so richtig gezeigt, was ein Kollaps ist – und zwar zur Abwechslung am eigenen Leibe. Und dieser Kollaps wird, wenn wir so weiter machen wie bisher, nicht der letzte gewesen sein. Es werden weitere Krisen auf uns zukommen, und zwar keineswegs nur viralbedingte: Schwindende Ressourcen, dramatische klimatische Veränderungen, globale Fluchtbewegungen, politische und ökonomische Implosionen – das ist, grob gesagt, die Ereigniskette, die eintreten wird, wenn wir einfach so weitermachen. Und die uns in eine Welt hineinführen wird, in der niemand von uns aufwachen will.
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sitzt vor dem Mikrofon im DLF-Studio
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler im DLF-Studio© Deutschlandradio/Achim Hahn
Woraus notwendig folgt: Zurück zur Normalität geht nicht. Der Weg ist uns versperrt. Denn diese Normalität ist tödlich. Die turbobeschleunigte Globalisierung hat ausgedient. Sie ist nicht mehr krisenfest und nicht mehr zukunftsfähig, wenn sie es denn überhaupt je war. Nun gilt es Kairos beim Schopfe zu packen – befinden wir uns doch in einer historisch einmaligen Situation. Weltweit wurde die Wirtschaft, wurden Produktion und Konsumtion in atemberaubender Geschwindigkeit heruntergefahren.
Wann, wenn nicht jetzt, in dieser Zwangspause, gewinnen wir neue Perspektiven auf das, was wir einst für normal hielten? Wann, wenn nicht jetzt, sind wir in der Lage, die Fenster einmal weit, ganz weit zu öffnen und frei in die Ferne zu schauen: Wie wollen wir leben? Wann, wenn nicht jetzt wäre die Gelegenheit, eine Debatte darüber zu eröffnen, welche Systemelemente wir wirklich brauchen, welche nicht, und welche anders, um human in die Zukunft zu steuern?

Wann wenn nicht jetzt?

Es ist nicht absurd zu vermuten, dass die grassierenden Verschwörungstheorien zur Coronakrise auch – wohlgemerkt auch – aus schlichter Verzweiflung resultieren. Nämlich darüber, dass gegenwärtig nahezu ausschließlich um "Einsicht in die Notwendigkeit" geworben wird, um es mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu sagen. Damit meinte der Denker übrigens keine medizinischen Maßnahmen, sondern den Lauf der Historie. Selten aber war die Geschichte so offen wie jetzt.

Die Philosophin, Autorin und Journalistin Svenja Flaßpöhler leitet das "Philosophie Magazin". In der neuen Ausgabe "Kollapsologie - Sind wir bereit für eine neue Zeit?" finden Sie mehr zum Thema.

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