Coronakrise

Jugendliche müssen Jugendliche treffen können

07:33 Minuten
Zwei Mädchen laufen lachend und Händchen haltend einen Weg entlang, im Hintergrund stehen weitere Jugendliche.
Als Corona-Regelbrecher verschrien: Jugendliche in der Coronakrise © Imago / PIXSELL / Sanjin Strukic
Von Susanne Billig · 29.10.2020
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Rücksichtslose Spaßgeneration? Weil viele junge Menschen trotz Pandemie Gleichaltrige treffen wollen, sind sie in der öffentlichen Debatte der Buhmann. Zu Unrecht: Denn der Kontakt ist essenziell für sie.
Schluss mit der Party. Die Spaßgeneration soll die Pandemie endlich ernst nehmen. So war es in den letzten Wochen immer wieder zu hören. Dazu flimmerten Bilder betrunkener Jugendlicher über die TV-Schirme, die sich in den großen Städten betrunken in den Armen lagen. Anna Peters ist 24 Jahre alt, lebt in Berlin – und erlebt ihre Lage als junger Mensch ganz anders:
"Ich habe im März angefangen, meine Kontakte zu reduzieren, meine Reisen zu reduzieren, in meiner Freizeit sowieso. Selbst, wenn uns der Coronavirus nicht direkt betrifft oder wir ihn auch überhaupt nicht merken würden, hat man ja immer den Gedanken, dass man auch Menschen gefährden kann. Deswegen erlebe ich in meiner Generation, dass so eine generelle Unsicherheit da ist, wie soziales Leben noch stattfinden kann."
Vor kurzem befragte die TUI-Stiftung mehr als eintausend junge Deutsche zwischen 16 und 26 Jahren. Gut die Hälfte sagt: Wir halten die Corona-Maßnahmen für angemessen. 18 Prozent erklären: Es könnte ruhig noch strenger sein. Nur sieben Prozent finden alles übertrieben. Ein Drittel hält sich an sämtliche Vorschriften, 50 Prozent an die meisten. Und nur zwei Prozent der jungen Menschen in Deutschland erklären, ihnen seien die Corona-Empfehlungen egal.
Professorin Gunda Voigts forscht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg zu Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendarbeit. Sie sagt: Vor der Krise wurden Jugendliche durch ihr Klimaengagement von Erwachsenen endlich als kompetentes Gegenüber wahr- und ernst genommen.
"Auf einmal haben wir wieder eine totale Verdrehung dieses Bildes auf Jugend. Auf einmal werden sie zu den Regelbrechern und -brecherinnen stigmatisiert – Virenschleudern ist ein Begriff, was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit wirklich gebracht worden ist –, also wir haben die Verdrehung des Bildes. Und das ist etwas, was mich total nachdenklich macht, auch, wie es passieren kann, dass der gesellschaftliche Blick sich innerhalb von zwei Wochen auf einmal wieder total dreht."

Jugendliche müssen sich in der Welt verorten

Mit Haudrauf-Spaß hat es auch gar nichts zu tun, wenn Jugendliche draußen ihresgleichen treffen möchten. Dahinter stehen Entwicklungsbedürfnisse, die in ihrer Dringlichkeit etwa dem Spielbedürfnis von Kindern in nichts nachstehen. Jugendliche zwischen 12 und 18 müssen sich in der Welt verorten, eine Position zu sich und anderen finden. Ihr Gegenüber dafür sind andere Jugendliche.
"Ich sage an der Stelle oft, die Familie der Jugendlichen sind die anderen Jugendlichen", betont Voigts. "Diese Jugendlichen sind ein Resonanzboden für ihr eigenes Tun. Und das macht es so wichtig, weil ja ihr ganzes Leben im Umbruch ist und sie klarhaben müssen: Wo stehe ich in dieser Welt? Was möchte ich von dieser Welt? Was möchte ich ändern an dieser Welt?"
So bauen junge Menschen erstmals in dieser Zeit innige Beziehungen außerhalb ihrer Familien auf. Die Peergroup ist entscheidend wichtig, auch für eine gesunde Ablösung von den Eltern. Der Drang nach Freiheit ist also normal. Genauso brauchen junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren Menschen ihres Alters, um ihre beruflichen Optionen kennenzulernen und herauszufinden, welche Art von Beziehungs- und Familienleben sie anstreben. Doch wenn Jugendfreizeiteinrichtungen, Schulen, Universitäten dichtmachen, bleiben essenzielle Entwicklungs-, aber auch Bildungsräume auf der Strecke.

Es geht nicht nur um digitales Lernen und Homeschooling

"Ich hab im Frühjahr angefangen, meinen Master in Potsdam zu studieren, und habe bis heute meine Professoren, meine Uni und eigentlich auch meine Kommiliton*innen überhaupt nicht gesehen", sagt Anna Peters.
"Und das kann ja eigentlich nicht wahr sein, dass ich in einer Uni studiere und noch nie in einem Hörsaal war! Vor allem für soziale Kontakte ist diese Coronakrise eine Schande, wenn Teilgruppen einfach nie beachtet werden in politischen Konzepten."
Was zeigt: Man kann Probleme junger Menschen jetzt nicht allein auf digitiales Lernen oder Homeschooling reduzieren. Das greift zu kurz. Anna Peters ist nicht nur eine Studentin mit persönlichen Themen. Seit einem Jahr engagiert sie sich auch als Bundessprecherin der Grünen Jugend. Um auf die Lage junger Menschen aufmerksam zu machen, schrieben die Vorsitzenden der Jugendverbände von FDP, SPD, CDU und Bündnis90/Die Grünen einen Brief an die Bildungsministerin und den Gesundheitsminister. Ihre Botschaft: Studierende und Azubis geraten in Not, auch weil ihre Jobs und Nebenverdienste wegbrechen.
"Wir haben diesen Brief im April verschickt, und ich habe vorher nochmal zusammengerechnet: 205.000 Mitglieder repräsentieren wir vier Jugendorganisationen und wir haben einfach gar keine Antwort auf diesen Brief bekommen."
Kein Wunder also, das viele jungen Menschen den Eindruck haben, dass an ihnen vorbei entschieden wird, wie sie sich in der Coronakrise zu verhalten haben.
"Selbst, wenn man uns nicht direkt antwortet, finde ich eine Frechheit, einfach nur so ein Studi-Sofortprogramm zu machen, das Studierende nicht wirklich vor finanziellen Notlagen rettet, und dadurch sehe ich ein riesengroßes Problem."

Jugendliche brauchen Entwicklungsräume

Und wie wirkt sich Corona auf Einsamkeit, Bewegungsmangel, Essstörungen aus? Auch das schon vorher ernste Probleme – auch junger Menschen. So sind etwa 27 Prozent von ihnen krankhaft fettleibig. Und noch etwas ist sicher: Kinder und Jugendliche, deren Eltern sie nicht unterstützen können, drohen sozial abgehängt zu werden, wenn der Unterricht nur noch im virtuellen Raum stattfindet. Und wie schnell Schulen doch wieder schließen, sieht man gerade am Beispiel Berchtesgaden.
Es braucht also dringend Antworten auf die Frage, wie lassen sich Entwicklungsräume, in denen junge Menschen heranwachsen – Schulen, Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendsport, Ausbildungsstätten, Universitäten – offenhalten, auch in der Pandemie? Und dazu sollte man, das fordern nicht nur Gunda Voigts und Anna Peters, endlich auch junge Menschen befragen.
"Junge Menschen müssen beteiligt werden an den Entscheidungen", betont Gunda Voigts. "Wir müssen sie ernst nehmen als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Leben, für ihre Umgebung. Wir müssen sie ernst nehmen mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen, und dafür müssen wir sie fragen und einbinden."
Anna Peters ergänzt:
"Da würden wir uns dementsprechend vor allem mal Runde Tische oder Zusammenkünfte wünschen. Auch außerhalb der Parlamente ist es notwendig, über Notlagen für unsere Generation nachzudenken und zusammen an Konzepten zu arbeiten, wie Jugendschutz möglich ist, wie Kinderrechte gewahrt werden und vor allem, wie die soziale Entwicklung garantiert ist."
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