Corona und der Verlust des Politischen

Solidarität ist nichts Unpolitisches

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Zwei junge Frauen stehen vor einem Bekleidungsgeschaeft Schlange mit Abstand zueinander und mit Masken gegen das Coronavirus.
Abstand halten und Maske tragen: Für die Journalistin Anna Sauerbrey sind das Akte der gesellschaftlichen Solidarität in der Pandemie. © picture alliance / Wolfram Steinberg | Wolfram Steinberg
09.03.2021
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Eine Politik, die nur auf Gesundheitsschutz abzielt, entpolitisiert die Gesellschaft. Dieser Kritik der Politologin Ulrike Guérot widerspricht Anna Sauerbrey vom "Tagesspiegel". Vielmehr sei in der Pandemie der Alltag der Bürger stark politisiert worden.
"Ohne Versammlung, ohne Kunst, Tanz, Gesang, ohne Menge und Masse kann es auf Dauer kein politisches Inter-Esse geben. Sondern lediglich die Sorge um sich selbst, die eigene Ansteckung, die Impfdosis oder das Intensivbett", sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Eine Gesellschaft, die das Politische auf den Gesundheitsschutz reduziere und ihre Verfasstheit in epidemiologischen Richtwerten messe, bedeute buchstäblich Zivilisationsverlust. "Denn es reduziert das bürgerliche Dasein auf das Menschsein, auf die nackte Kreatur. Diese aber ist kein politischer Begriff."
Dieser These vom Verlust des Politischen in Zeiten der Pandemie widerspricht Anna Sauerbrey, Leiterin des Meinungsressorts beim Berliner "Tagesspiegel": "Denn auch der Schutz des Lebens, der Schutz der Gesundheit der Bürger ist natürlich eine ganz zentrale Aufgabe von Politik."

Neues Bewusstsein für die Wirkmacht der Politik

Auch die Solidarität, die viele Menschen in der Coronakrise gelebt hätten, sehe sie nicht als etwas Unpolitisches oder Unzivilisatorisches, so die Journalistin weiter. "Denn genau das macht ja gerade Zivilisation und Gesellschaft aus, dass man gemeinsam handelt und sich gegenseitig in Schutz nimmt."
Hinzu kommt Sauerbrey zufolge, dass in der Pandemie auch der Alltag stark politisiert worden sei. Nomalerweise wirkten neue Gesetze ja eher langfristig, sagt sie. "Jetzt ist es so, dass eine Corona-Verordnung erlassen wird und zwei Tage später sind die Läden dicht."
Auf der anderen Seite kann Sauerbrey das Unbehagen Guérots am unbedingten Primat des Gesundheitsschutzes durchaus nachvollziehen.
"Wir haben ein bisschen verlernt zu sehen, was eigentlich unsere Prioritäten sind. Am Anfang der Pandemie war ja das Hauptargument, wir müssen eine Überlastung der Intensivstationen verhindern, wir müssen unnötige Tote verhindern und weiterhin den besten Gesundheitsschutz liefern", sagt sie.
Derzeit sänken aber die Todeszahlen und dennoch klammerten wir uns weiter an Inzidenzwerte und stünden Lockerungen ängstlich gegenüber. "Da sehe ich schon eine Art Gewöhnungseffekt und auch eine Priorität von Gesundheitspolitik, die langsam vielleicht so was Ungutes bekommt."
(uko)

Die Journalistin Anna Sauerbrey leitet das Ressort Meinung/Causa des Berliner "Tagesspiegels" und ist Mitglied der Chefredaktion. Die promovierte Historikerin kam 2009 als Volontärin zu der Zeitung. Sauerbrey schreibt außerdem für die "New York Times" eine monatliche Kolumne.

Die ganze Sendung "Der Tag mit Anna Sauerbrey" hier zum Nachhören:
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