Corona in Venedig

Wenn die Gondeln Trauer tragen

25:06 Minuten
Leere Boote schaukeln auf dem Rio Grande mit Blick auf Venedig.
Nichts los im Touristenhotspot Venedig. Die Lagunenstadt wurde von den Reisebeschränkungen infolge der Pandemie hart getroffen. © Deutschlandradio / Anna Küch
Von Anna Küch · 05.07.2021
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Ist jetzt die schönste Zeit, um nach Venedig zu fahren? Nach dem zweiten Lockdown sind die Restaurants geöffnet, die Hotels locken mit Sonderpreisen. Die Stadt ist wie ausgestorben, viele Venezianer wollen dennoch nicht, dass alles so wird wie vor Corona.
Auf dem Canal Grande ist am frühen Morgen kaum Verkehr, ein Müllboot legt am Rialto-Markt an. Pappkartons werden eingeladen. Marktverkäufer sortieren an den Ständen Aprikosen, Pfirsiche und Erdbeeren. Durch die Halle der Fischverkäufer fliegen Schwalben. Es riecht nach Salz, Meer und Wind. Andrea Vio hat eine schwarze Schürze an und zeigt auf seine Theke:
"Die sind von außerhalb und diese Fische hier kommen alle aus der Lagune, Mazzancole, das sind Garnelen, da haben wir Vongole, kleine Calamares, Tintenfische, die können Sie frittieren."
An einem Marktstand liegen viele verschiedene Fischsorten in der Auslage. Ein Verkäufer mit Schürze unterhät sich mit seiner Kundschaft.
"Diese Fische kommen alle aus der Lagune", so der venezianische Fischverkäufer Andrea Vio.© Deutschlandradio / Anna Küch
Venezianer haben ein besonderes Verhältnis zum Meer, sie sind von ihm umgeben und essen alles, was daraus kommt. Seit über 600 Jahren wird hier auf dem Rialto-Markt Fisch verkauft. Dann kam Corona, erzählt Andrea Vio, und die Stadt war wie ausgestorben.
"Ja, weil es keine Motoren gab, es gab keinen Lärm, es gab keine Boote. Die Natur hat die Kontrolle wieder übernommen. Wir sahen wieder Enten auf den Kanälen. Dann sahen wir auch die Delfine, die Delfine im Canal Grande."

Vor Corona kamen 90.000 Menschen am Tag

Normalerweise drängen sich auf den Kanälen Venedigs Wassertaxis, Gondeln, Vaporettos und Lastkähne. Während des ersten Lockdowns waren die Wege leer, auf den Straßen und Gassen kein Mensch unterwegs. Nur die Einheimischen kamen, um auf dem Rialto-Markt einzukaufen.

Seit Mitte Mai ist der zweite Lockdown vorbei. Die Restaurants in Venedig haben wieder geöffnet, die Hotels locken mit Sonderpreisen. Viele deutsche Stimmen sind in diesen Tagen zu hören. Deutsche und Italiener, die Venedig einmal anders erleben wollen.
Vor Corona kamen 33 Millionen Menschen jedes Jahr nach Venedig. Das sind 90.000 Menschen pro Tag, die sich in den schmalen Gassen, den Brücken oder auf dem Markusplatz drängeln. Im Teatro la Fenice erklingen Töne: Das berühmte Opernhaus am Campo San Fantin hat wieder geöffnet. Morgens gibt es Probevorstellungen.
Eine blonde Frau mit schwarzer Brille und Kleidung steuert im Heck sitzend ein Boot.
"Venezianer wurden durch Touristen ersetzt." Die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Petra Reski lebt seit 30 Jahren in Venedig.© Deutschlandradio / Anna Küch
Im Café Antico Martino sitzt die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Petra Reski und trinkt einen doppelten Espresso. Seit 30 Jahren wohnt sie in Venedig. Sie macht sich große Sorgen um ihre Stadt. Gerade hat sie ein Buch darüber veröffentlicht.
"Hier in Venedig fand de facto eigentlich ein Bevölkerungsaustausch statt, also keine Gentrifizierung, sondern ein Bevölkerungsaustausch. Ein Austausch, der darin besteht, dass man eben Venezianer durch Touristen ersetzt hat."

Venedig hat die meisten Airbnbs in ganz Italien

Venedig ist die Stadt mit den meisten Airbnbs in ganz Italien. Jede zweite Wohnung ist an Touristen vermietet. Als Corona kam, wurde die Lagunen- zur Geisterstadt, erzählt Reski. Sie freute sich über jedes Lebenszeichen und erlebte Erstaunliches unter anderem auf ihrem Balkon.
"Normalerweise setze ich mich nicht auf diesen Balkon aus dem einfachen Grund, weil bei uns in dem Kanal von morgens bis abends Gondeln vorbeifahren und natürlich überhaupt sehr viel Verkehr ist. Das heißt, wir halten das Fenster immer geschlossen.
Und jetzt habe ich mich tatsächlich seit 30 Jahren zum ersten Mal wieder auf diesen Balkon gesetzt und hörte dann zu meinem großen Erstaunen, wie ein Nachbar zum anderen rief: 'Gianni, wohnst du auch hier?' Und der andere rief dann: 'Ja, seit 30 Jahren.' Und die hatten sich nie gesehen, weil die natürlich genau wie wir auch immer die Fenster geschlossen hielten."
Eine leere Häuserzeile am Wasser mit leeren Booten.
Erst von Touristen überlaufen, dann leer. Venedigs Gassen an einem Abend im Mai.© Deutschlandradio / Anna Küch
Bis Mitte der 1920er-Jahre lebten noch 200.000 Menschen in der Stadt, das hat sich dramatisch verändert. Offiziell hat Venedig nur noch 50.000 Einwohner.

Proteste helfen wenig

Die Privatisierung hat in den letzten Jahren um sich gegriffen: Viele Inseln der Lagune wurden mittlerweile verkauft. Ganze Straßenzüge in Venedig gehören privaten Unternehmen. Proteste der Einwohner helfen wenig.
Viele Probleme haben schon unter Benito Mussolini, dem einstigen Diktator der Italiener, begonnen, der Venedig mit dem Festland zusammengelegt hat. Wenn der Bürgermeister gewählt wird, wird er also auch vom Festland gewählt und dort haben sie ganz andere Interessen als auf den Inseln.
Nicht weit von Petra Reski entfernt betreibt Roberto Zammattio ein Hotel. Die Pensione Guerrato liegt in einer schmalen Gasse hinter dem Rialto-Markt. Sie heißt "die Gasse hinter dem Affen", weil sich hier einst eine Osteria mit dem Namen "Affe" befand. Im Frühstückssaal tanzt Staub durch die Morgensonne, die Tische sind gedeckt, die Kaffeemaschine ist abgeschaltet. Roberto Zammattio macht gerade nur am Wochenende auf.
"Wir haben wenige Anfragen. Das lohnt sich für mich nicht. Auch meine Kollegen von den großen Viersterne- und Fünfsternehotels haben von Montag bis Donnerstag nur zwei, drei, vier Zimmer offen. Dafür kann ich kein Personal bezahlen. Also konzentriere ich mich aufs Wochenende. Die Zeit war katastrophal."
Ein Mann mit weißgrauem Vollbart steht im T-Shirt vor einem Treppenaufgang, einer Wand voller Bilder und einer Kommode.
Das sei in Venedig „ein anspruchsloser und desaströser Tourismus“, sagt Roberto Zammattio in der Pensione Gueratto.© Deutschlandradio / Anna Küch
Erst kam 2019 im November das Hochwasser, das viele Touristen abgeschreckt hat, dann im März 2020 Corona. Robertos Umsatz ist dramatisch eingebrochen. 15 Monate ohne Einkünfte. Er lebt von den Touristen, doch die wurden selbst ihm in der Vergangenheit zu viel.
"Venedig wurde in den letzten zehn bis 15 Jahren überfallen. Von einem anspruchslosen und desaströsen Tourismus. Von Menschen, die mit einer Plastiktüte mit Panini für einen Tag in die Stadt kamen, vielleicht von den Stränden oder vom Hinterland aus, nur um zu sagen, dass sie in Venedig waren.
Aber ohne wirklich zu verstehen, wo sie waren und leider ohne Respekt vor der Stadt. Denn wenn jemand in Badeanzug oder Shorts direkt vom Strand kommt und eine Kirche betreten will, die ein heiliger Ort ist, dann hat derjenige nichts verstanden. Das ist respektlos."

Es fehlt eine Vision für Venedig

In der Vergangenheit sei es verpasst worden, eine Vision für die Stadt zu entwickeln, sagt Roberto. Dem Massenansturm Herr zu werden. Dem Overtourism einen Riegel vorzuschieben. Andere Städte wie Barcelona verbieten mittlerweile neue Hotels in der Innenstadt. In Amsterdam gibt es eine Kurtaxe und eine Hotelsteuer.
Und Venedig? Der Gastwirt seufzt. Keine Idee, kein Plan. Ein Eintrittsgeld war mal angedacht, aber das hat Bürgermeister Luigi Brugnaro verschoben, er will die Touristen ja nicht vertreiben. Brugnaro ist Unternehmer. Für ein Interview steht er nicht zur Verfügung.
"Die Zukunft wurde nie berücksichtigt. Wir haben jahrzehntelang gearbeitet und gut verdient und dann brach alles zusammen, als die Leute während der Pandemie nicht mehr kamen. Die Stadt ist während der Pandemie gestorben. Die Stadt ist tot und befindet sich weiterhin in großen Schwierigkeiten. Das ist das Problem."
Am Ufer liegen leere Gondeln, kein Mensch ist zu sehen.
Wegen Corona brach alles zusammen. Blick von der Kirche Santa Maria Salute auf den Canal Grande.© Deutschlandradio / Anna Küch
Viele Venezianer hatten die Hoffnung, dass sich mit Corona etwas ändern könnte. Dass der Tourismus nicht die einzige Möglichkeit sein würde, Geld zu verdienen. In Zoom-Konferenzen tauschten sich engagierte Bürger aus:
Darüber, dass man Handwerksbetriebe ansiedeln könnte, statt schon wieder einen neuen Souvenirshop einzurichten. Oder darüber, dass der Schiffsverkehr reduziert werden könnte in der Lagune und damit auch die Verschmutzung dort. Und darüber, dass man wieder Menschen anlocken könnte, sich hier niederzulassen.

Smart Worker und Start-ups als Lösung?

Neben dem Bahnhof Santa Lucia hat Andrea Zorzi sein Büro. Der 45-jährige Venezianer ist Anwalt und Bürgeraktivist. Seine Idee: ein Anwerbeprogramm für Venedig-Einwanderer. Sogenannte Smart Worker könnten einziehen, die von überall her arbeiten, Familien mit Kindern, Start-ups.
"Wir haben das Problem, dass Häuser in Venedig teuer sind und für Kleinvermietungen an Touristen genutzt werden. Aber es gibt immer noch Venezianer, die gerne langfristig vermieten möchten. Die Frage war also, wie motivieren wir mehr Eigentümer, ihre Häuser an Leute zu vermieten, die gerne dauerhaft hier leben möchten."
Dafür müsse man das Mietrecht ändern, das zurzeit sehr starr sei, sagt Andrea Zorzi. Es sei einfacher, an Touristen zu vermieten als an Einheimische, weil man die so einfach nicht mehr rauskriege. Venedig habe so viel zu bieten, sagt Zorzi.

Hauptsache, das Tourismusgeschäft läuft

Eine Stadt ohne Autos, in der man sich nur zu Fuß oder über das Wasser bewegen könne. Wo gebe es das weltweit? Aber seine Vorschläge fanden bei der Stadtregierung kein Gehör.
"Im Wesentlichen ist nichts passiert. Jetzt, da die Wirtschaft am Boden liegt, wird noch mehr geduldet. Hauptsache, das Geschäft mit den Tourist:innen läuft wieder."
Ein Gondoliere mit seiner Gondel vor der Rialto-Brücke in Venedig.
Die berühmte Rialto-Brücke. Im Unterschied zu Amsterdam und Barcelona hat Venedig keinen Plan.© imago images / SoudanE / Alpaca / Andia
Die schwarzen Gondeln schaukeln im Wasser an der Riva degli Schiavoni. Die Gondolieri singen, sie langweilen sich in der Sonne. Am 5. Juni ist das erste Kreuzfahrtschiff wieder durch den Guidecca-Kanal gefahren. Es gab riesige Proteste. Aktivistin Eleonora Sovrani kann es nicht fassen. Sie deutet auf den Kanal:
"Diese Schiffe sind nicht mit der Stadt und ihrem Lagunen-Ökosystem vereinbar und sie lassen sie trotzdem weiterhin herein. Angesichts dieser Ignoranz sind wir sprachlos. Und natürlich auch wütend."

Trotz Protest: Kreuzfahrtschiffe am Markusplatz

Von einer Verbannung der Schiffe, wie auch viele deutsche Medien vor Kurzem berichtet hatten, keine Spur. Das Gesetzesdekret war nur die Absichtserklärung, dass die Schiffe außerhalb der Lagune anlegen sollen. Dort gibt es aber keine Anlegestelle.
Das heißt: Weiterhin fahren riesige Kreuzfahrtschiffe am Markusplatz vorbei. Allein in dieser Saison sollen es 30 sein. Darunter auch die 300 Meter lange MSC Opera, die 2019 mit einem kleineren Schiff zusammenstieß. Bei dem Unfall gab es mehrere Verletzte.
Ein riesiges Kreuzfahrtschiff fährt an venezianischen Gondel vorbei.
Kreuzfahrtschiffe gefährden seit Jahren das Ökosystem der Lagunenstadt.© Picture Alliance / dpa / Andreas Engelhardt
Unverantwortlich, sagt Eleonora Sovrani. Ihre NGO "We are Venice" macht darauf aufmerksam, wie sehr die Schiffe der Lagune schaden.
"Luftverschmutzung, Lärmbelastung, Lichtverschmutzung. Mal ganz abgesehen von den Tausenden Menschen, die in Venedig einfallen. Auch das Ökosystem der Lagune ist betroffen, weil die Kreuzfahrtschiffe Wellen erzeugen und dadurch eine sehr große Menge Wasser und auch Sedimente bewegen. Das wirkt sich negativ auf das Fundament der Stadt aus."

Wie Statisten für einen Film

Ein Kreuzfahrtschiff erzeugt an einem Tag so viel CO 2 wie 84.000 Pkw und Feinstaub wie etwa eine Million Autos. Schwefeldioxid ist nicht nur schädlich für die Gesundheit der Menschen, sondern greift auch die alten Paläste an, warnen Wissenschaftler.
Auf einem der vielen venezianischen Plätze spielen Kinder Fußball und Fangen. Das Stadtviertel Cannaregio ist ruhig an diesem Morgen. Vor dem Palazzo Contarini dal Zafo glitzert der Kanal. Rennruderin Elena Almansi legt an. Sie steht auf einem langen polierten Holzboot.
"Manchmal werden wir Venezianer wie Statisten für einen Film behandelt. Es gibt Leute, die hierherkommen und nicht wissen, dass hier tatsächlich Menschen leben und Venedig kein Vergnügungspark ist.
Einmal wurde ich von einem jungen Amerikaner gefragt, ob das mein Boot sei, und er war richtig überrascht, dass ich hier lebe und fragte, ob ein Foto mit mir machen kann, sonst würde ihm ja niemand glauben, dass tatsächlich jemand in Venedig lebt."
Ein Platz mit wenigen Menschen, an dem zu linken der Dogenpalast steht.
Die Piazzetta mit dem weltberühmten Dogenpalast. © Deutschlandradio / Anna Küch
Während des Lockdowns brachte Elena Almansi mit ihrem Boot Lebensmittel zu alten Menschen. Denn in vielen Vierteln gibt es keine Läden mehr. Sie hatte die Hoffnung, dass sich durch Corona etwas ändern könnte.
"Jetzt geht es wieder los mit den Touristen und wir werden wieder erstickt wie zuvor. Aber gut, wir müssen Geduld haben. Wer Geduld hat, überlebt. Das war in Venedig schon immer so. Mal sehen, wie viele der 50.000 Einwohner Geduld haben und die Stadt nicht verlassen. Ich bin auf jeden Fall stolz darauf, Venezianerin zu sein und zu den 50.000 zu gehören, die noch in der Stadt verankert sind."
Ein Taxiboot kommt den Kanal entlang und fordert die Rennruderin auf, Platz zu machen. Ein paar Touristen wollen einsteigen. Hoch erhobenen Hauptes sticht Elena Almansi ihr Ruder ins Wasser und fährt Richtung Hafen.
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