Corona-Impfung

Impft Pfleger zuerst – um der Alten willen

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Eine Vintage Illustration einer Hand, die eine Spritze hält.
Der Impfstoff soll es richten. Umso drängender die Frage, wie die knappe Ressource am zielführendsten eingesetzt werden kann. © Getty Images Plus/ iStock / channaron
Ein Plädoyer von Nikolaus Nützel · 21.12.2020
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Wer erhält den Corona-Impfstoff zuerst? Von der Antwort darauf hängt ab, wie effektiv die Impfstrategie tatsächlich wirkt. Der Medizinjournalist Nikolaus Nützel rät daher zu kühlem Nachdenken: Die naheliegendste Antwort ist nicht unbedingt die beste.
Die erste Patientin, die in Großbritannien eine Corona-Impfung erhalten hat, ist 90 Jahre alt. Sie hat also ein Alter erreicht, das rund sieben Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung von Frauen im Vereinigten Königreich liegt.
Es drängt sich ein bisschen der Verdacht auf, dass die britischen Gesundheitsbehörden auch den Gedanken der Public Relations im Hinterkopf hatten, als sie eine so hochbetagte Frau als Empfängerin der ersten Impfung aussuchten. Davon geht das Signal aus: Wir kümmern uns um die, die am stärksten gefährdet sind – um alte und sehr alte Menschen!

Die Ressourcen dorthin, wo sie am meisten bringen

Doch diese Entscheidung passt nicht zu einem Prinzip, das gerade im britischen Gesundheitswesen seit Jahrzehnten besonders konsequent umgesetzt wird: Wenn es nur begrenzte Ressourcen gibt, und man nicht jeden sofort mit allem versorgen kann, was notwendig ist, dann sollten die Ressourcen dorthin fließen, wo sie den meisten Nutzen stiften.
Um das zu erreichen, wird in Großbritannien besonders offensiv das Prinzip der "Quality Adjusted Life Years" vertreten. Auf Deutsch: qualitätskorrigierte Lebensjahre. Wenn es um die Verteilung der knappen Ressource Geld geht, wird mit dieser Maßzahl berechnet, wie viele Lebensjahre – statistisch gesehen – durch den Einsatz einer bestimmten Summe Geld gewonnen werden können.

Auch Deutschland verteilt Ressourcen nutzenorientiert

Mit dem Wort "qualitätskorrigiert" ist dabei gemeint, dass – vereinfacht gesprochen – zwei zusätzliche Lebensjahre ohne nennenswerte Nebenwirkungen etwa für einen Krebspatienten ähnlich viel wert sein können wie vier Lebensjahre mit schwerwiegenden Nebenwirkungen einer Behandlung.
In Deutschland wird das Prinzip, begrenzte Ressourcen dorthin zu lenken, wo sie den größten Nutzen stiften, nicht so offensiv vertreten wie in Großbritannien. Aber auch hierzulande gilt dieses Prinzip nicht nur als vernünftig, sondern auch als menschenfreundlich – auch wenn das in Deutschland nicht so laut gesagt wird wie auf den britischen Inseln.

Welche Impfstrategie am effizientesten wirkt

Man kann sich folgendes Szenario vorstellen: Eine 50-jährige Pflegerin, die durch die Behandlung von Corona-Patienten einem besonders hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt ist, wird immunisiert und auf diese Weise vor einem schweren, vielleicht sogar tödlichen Verlauf geschützt.
Wenn wir uns gleichzeitig eine 90-jährige Heimbewohnerin vorstellen, die in ihrem Alltag keinem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sein muss – wem würden wir die Impfung zuerst geben wollen?
Es spricht auch noch etwas anderes dafür, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte als erstes zu impfen, und übrigens auch Reinigungskräfte in Pflegeheimen und Krankenhäusern oder Beschäftigte in den dortigen Kantinen. Sie sind wahrscheinlich in vielen Fällen diejenigen, die das Virus, ohne es zu wissen, in die Heime und Kliniken hineintragen.
Es ist zwar noch unklar, inwieweit Geimpfte das Virus möglicherweise trotzdem weitergeben. Aber es spricht viel dafür, dass eine Impfung dieses Risiko verringert. Wenn die ersten Impfdosen vor allem an diejenigen vergeben werden, die sich medizinisch und pflegerisch um die besonders gefährdeten Männer und Frauen kümmern, würde es indirekt auch diesen besonders gefährdeten Menschen zugute kommen.

Die deutsche Politik versucht einen Spagat

Die Vorgaben aus der deutschen Politik, wer zuerst geimpft werden soll, versuchen zwei Überlegungen unter einen Hut zu bringen. Das knappe Gut Impfstoff soll so verteilt werden, dass es den größten Nutzen stiftet. Gleichzeitig sollen die besonders Gefährdeten zuerst drankommen, die Über-80-Jährigen.
Es kann also sein, dass auch in Deutschland eine 90-jährige Heimbewohnerin in einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung die erste Spritze verabreicht bekommt. Näher an den rationalen Überlegungen hinter der Auswahl der ersten Impf-Kandidaten wäre es, wenn man eine 50-jährige Pflegerin für diese historischen Bilder aussuchen würde.

Nikolaus Nützel ist Journalist und Buchautor in München, einer seiner Themenschwerpunkte ist die Gesundheitspolitik. Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem Publizistikpreis der GlaxoSmithKline-Stiftung und dem Publizistikpreis der Stiftung Gesundheit ausgezeichnet.

Der Journalist und Sachbuchautor Nikolaus Nützel.
© Isabelle Grubert
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