Corona-Bekämpfung

Plädoyer für das Handy-Tracking

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Eine Illustration zeigt verworrene Linien und viele Augen um den Kopf eines Mannes herum.
Welche Überwachung und welche Maßnahmen sind sinnvoll und welche ein zu großer Einschitt in die Privatsphäre und die persönliche Freiheit? © imago images / Oivind Hovland
Von Philipp Hübl · 29.03.2020
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Um noch Schlimmeres zu vermeiden, gebietet die Coronakrise im Moment die Einschränkung wichtiger Freiheiten. Aber welcher genau? Der Philosoph Philipp Hübl meint, beim Handy-Tracking sollten wir umsteuern, so schnell wie möglich.
Die Corona-Pandemie bringt uns in ein moralisches Dilemma. Zurzeit, so scheint es, haben wir die Wahl zwischen zwei Optionen, die beide schlecht sind. Entweder Menschenleben schützen und Grundrechte massiv einschränken, wie die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Oder die Freiheiten belassen und dafür Tausende Tote in Kauf nehmen. Fast alle Staaten haben sich inzwischen für die erste Option entschieden.

Verzicht auf Freiheit, um Leben zu schützen

Moralische Konflikte entstehen, wenn sich zwei Grundprinzipien widersprechen. In diesem Fall: Freiheit und der Schutz des Lebens. Mindestens eines der Prinzipien wird Schaden nehmen. Wir müssen also abwägen, welcher Schaden größer ausfällt. Das ist schon deshalb schwer, weil die Faktenlage unübersichtlich ist.
Nach Schätzungen der Experten werden sich 60 Prozent der Deutschen infizieren. Angenommen fünf Prozent benötigen Intensivmedizin und ein Prozent stirbt. Das hieße: knapp 50 Millionen Infizierte, 2,5 Millionen Krankenhauspatienten und 500.000 Tote. Selbst um den Faktor zehn gemindert, wäre die Lage also katastrophal.
Philipp Hübl, Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart (9.5.2015).
Gezielte Kontrolle ist besser: Philipp Hübl, Philosoph und Publizist.© Philipp Hübl
Gerade in individualistischen Ländern wie Deutschland legen die Menschen viel Wert auf Selbstbestimmung. Und sie haben starke pflichtethische Intuitionen: Jedes Leben ist gleich schützenswert. Moralisches Abwägen wirkt da kalt und berechnend, besonders wenn es um Menschenleben geht. Doch leider führt in Extremsituationen kein Weg daran vorbei.

Folgekosten des Kontaktverbots

Schon vor der Krise haben wir übrigens nicht alles getan, um Leben zu schützen. So sterben in Deutschland jährlich 3000 Menschen im Straßenverkehr, die wir retten könnten, würden wir Autos verbieten. Das tun wir nicht, weil die Folgekosten zu hoch wären.
Beim aktuellen Kontaktverbot kann man die Folgekosten bisher nur vage abschätzen, doch trotzdem darf man sie nicht ausblenden: Die Suizidrate und die häusliche Gewalt werden zunehmen, ebenso Haushaltsunfälle, Depressionen, Unternehmenspleiten und Arbeitslosigkeit. Wodurch sich wiederum Steuereinnahmen reduzieren, die bisher das Gesundheitssystem und den Staat am Laufen halten.

Ansteckungen reduzieren durch Handy-Tracking

Da wir uns nun ohnehin für die Einschränkung der Freiheit entschieden haben, sollten wir so schnell wie möglich eine weitere Maßnahme hinzufügen, mit der Länder wie Taiwan oder Südkorea erfolgreich die Neuinfektionen gesenkt haben: Tracking. Diese Länder stellen positiv getestete Personen unter strenge Quarantäne und verfolgen dann ihre Bewegungen über die Handydaten zurück, um andere über eine mögliche Ansteckung oder zumindest über gefährliche Orte zu informieren.
Der Vorteil: Nicht-Infizierte können regulär arbeiten und leben. Der gesamtgesellschaftliche Schaden fällt so deutlich geringer aus. Der Nachteil dieser Option ist natürlich: Sie ist technisch aufwendig und stellt ebenfalls einen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte dar, inklusive der Überwachung privater Daten.

Demokratische Kontrolle der Daten-Überwachung

Wir Deutschen sind beim Thema "Überwachung" und beim Einsatz digitaler Technik traditionell besonders kritisch. Und natürlich ist die Sorge um potentiellen Missbrauch und einen langfristigen Dammbruch gerechtfertigt. Doch wir müssen uns klar machen: Wenn die Hochrechnungen nur halbwegs stimmen, können wir – so oder so – Zehntausende Menschen nur dann retten, wenn wir unsere Freiheit einschränken. Außerdem leben wir in einer sehr stabilen Demokratie, die nicht aus den Angeln gehoben wird, wenn wir temporär die Bewegungsmuster der Bürger verfolgen.
Momentan ist das Kontaktverbot noch die beste Zwischenlösung. Aber wir müssen so schnell wie möglich ein – idealerweise freiwilliges – Modell finden für das gezielte Tracking der Ortungsdaten etwa von Google und Facebook. Dabei muss natürlich immer sichergestellt sein, dass nach dem Sieg über die Pandemie alle Eingriffe in unsere Grundrechte sofort wieder verboten sind.
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