Tilmann Lahme: "Die Manns - Geschichte einer Familie"

Intime Einblicke in einen Schriftsteller-Clan

Der Schriftsteller Thomas Mann mit seiner Ehefrau Katia am Lübecker Hauptbahnhof 1955. Anlass des Besuchs seiner Geburtsstadt war die Verleihung der Ehrenbürgerwürde.
Der Schriftsteller Thomas Mann mit seiner Ehefrau Katia am Lübecker Hauptbahnhof 1955. Anlass des Besuchs seiner Geburtsstadt war die Verleihung der Ehrenbürgerwürde. © picture alliance / dpa / Hans Kripgans
Von Hans Dieter Heimendahl · 14.10.2015
Tilmann Lahme schreibt in "Die Manns - Geschichte einer Familie" mit nüchterner Genauigkeit von emotionalen und finanziellen Abhängigkeiten, von Drogenkonsum und unglücklichen Liebschaften. Ihm gelingt diese Innenansicht, ohne dass er dabei die Menschen verrät.
Das Urteil ist vernichtend. Der Professor beobachtet seinen Sohn im Kreise seiner Freunde, die ihm im Gegensatz zu seinem eigenen Spross tüchtig erscheinen: "Dagegen mein armer Bert, der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiß nicht einmal dazu Talent hat!"
Sie hatten es nicht leicht miteinander
Das Porträt der Familie des mutmaßlichen novellistischen Alter Ego von Thomas Mann in der Novelle "Unordnung und frühes Leid" verstehen alle Kinder als eines der eigenen Familie und erkennen in dem ältesten Sohn Klaus Mann. Und nicht nur die Kinder. Der Freund der Familie Ernst Bertram, dem Thomas Mann die Novelle widmen möchte, lehnt dies ab, weil er in dem Porträt eine "Preisgabe der Kinder" sieht. Klaus Mann beklagt sich bitter in einem Brief an seine Schwester über "des Zauberers Novellenverbrechen". Er rächt sich aber auf ähnliche Weise, indem er in der wenig später geschriebenen "Kindernovelle" einen jungen Mann, der ihm selbst nachempfunden ist, sich mit einer Witwe einlassen lässt, deren verstorbener Mann Schriftsteller war und Züge Thomas Manns trägt. Dabei porträtiert Klaus Mann in den vier Kindern der Witwe seine Geschwister und geht mit seinem Bruder Golo kaum weniger verbrecherisch um als der Vater mit ihm. Die Manns – so scheint es – hatten es nicht leicht miteinander, und sie machten es sich nicht leicht.
Elisabeth Mann Borgese 1998 vor einem Familienfoto im Lübecker Buddenbrookhaus. Die Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Mitbegründerin des "Club of Rome" lebte von 1918 - 2002. Sie war die jüngste Tochter des Schriftstellers Thomas Mann.
Die jüngste Tochter von Thomas Mann, die Wissenschaftlerin Elisabeth Mann Borgese (1918 – 2002), vor einem Familienfoto im Lübecker Buddenbrookhaus. © picture alliance / dpa / Rolf Rick
Klagen, Bitten, Enttäuschungen und Verletzungen
Tilmann Lahme beschränkt sich in "Die Manns. Geschichte einer Familie" auf die Zeit nach 1922 und auf die Eltern Thomas und Katia und ihre sechs Kinder Erika, Klaus, Golo, Monika, Elisabeth und Michael, der Onkel Heinrich oder die Großeltern Pringsheim kommen nur am Rande vor. Er erzählt sehr genau in chronologischer Folge und sozusagen reihum von den Lebenswegen der Eltern und der Geschwister, den Ortswechseln und Tätigkeiten, ihren Plänen und Publikationen. Dabei schöpft er im Wesentlichen aus den Tagebüchern und Briefen, die der Golo-Mann-Biograf Tilmann Lahme im kommenden Jahr mit Kerstin Klein und Holger Pils in einer neuen Edition veröffentlichen wird, und montiert die Zeugnisse und Selbstaussagen zu einer Tonspur des Familiengesprächs. Seine "Geschichte einer Familie" ist eine qualifizierte Führung durch die Klagen und Bitten, Enttäuschungen und Verletzungen, den Neid und das vergiftete Lob, die in den unmittelbar verfassten Notizen ihren schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Es ist kein Diskurs der Liebe, in den der Leser gerät, auch wenn es ganz echte große Zuneigungen zwischen einigen der Beteiligten gibt, sondern einer der Abgrenzung und des Werbens um Aufmerksamkeit und Verständnis - eine Dokumentation der Einsamkeit und der gescheiterten emotionalen Emanzipation vom übermächtigen Vater.
Bitte um zusätzliche Geldüberweisungen
Thomas Mann hat auch das, wie es seine Art ist, literarisch verarbeitet in dem Porträt Augusts in seinem Goethe-Roman "Lotte in Weimar": "Der Sohn eines Großen", schreibt er da, "ein hohes Glück, eine schätzbare Annehmlichkeit und eine drückende Last, eine dauernde Entwürdigung der eigenen Selbstheit doch auch wieder." Beides trifft auf seine Kinder zu. Als Autoren oder Vortragende stoßen sie immer dann auf offene Ohren, wenn sie Familiäres ausbreiten. Und das tun sie also dann – jedes der Kinder hat über die Familie und den Vater geschrieben. Sie leiden unter dem Vater und sie profitieren von seiner Berühmtheit, nicht zuletzt auch finanziell. Praktisch alle sechs Kinder haben die wesentliche Zeit ihres Lebens von seinem Vermögen und den Einkünften durch seine Werke gelebt – fast jeder Brief von Klaus oder Michael an die Mutter, die das Geld verwaltet, endet mit einer Bitte um zusätzliche Überweisungen.
Geben und Nehmen
Auf der politischen Ebene ist eher der Vater der Nehmende. Er lässt sich lange bitten und bearbeiten, bis er sich gegen die Nazis stellt und für die Emigration entscheidet. Nach dem Krieg ist es umgekehrt, grollen die Vertriebenen dem verbrecherischen Deutschland und fordert vor allem Erika einen klaren Boykott, allein Golo vermag die Lage differenziert zu analysieren. Thomas Mann selbst schließlich geht auf die ehrenden Angebote aus Deutschland ein und hält dabei Reden, mit denen er Brücken baut und so seinem Werk und auch seinen Kindern den Weg ebnet. Wieder einmal.
Tilmann Lahme gelingt es, die familiären Schichten frei zu legen und mit nüchterner Genauigkeit die finanziellen Abhängigkeiten, den Drogenkonsum, die wechselnden und in der Regel unglücklichen Liebesbeziehungen und die vielfältigen und in der Regel nur vorübergehend erfolgreichen beruflichen Projekte der Kinder nachzuzeichnen, ohne sie als Menschen zu verraten. Intimer kann man die Geschichte einer Familie nicht erzählen.
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