Coltrane hat den Jazz transzendiert

08.09.2011
Der Musikjournalist Karl Lippegaus porträtiert den Musiker und den Menschen John Coltrane, für den die Begegnung mit dem Jazz-Trompeter Miles Davis im Jahr 1956 von entscheidender künstlerischer Bedeutung war. Coltrane lernt viel von ihm - bis er schließlich eigene Wege geht.
Er ist einer der größten Musiker und Komponisten des 20. Jahrhunderts, und doch weiß man wenig von ihm. John Coltrane (1926-1967) wirkte stilbildend für alle Saxofonisten, die nach ihm kamen, sein Leben wurde durch und durch von seiner Musik bestimmt. Deswegen sind alle "Biografien", die es bisher von ihm gibt, in erster Linie Beschreibungen seiner musikalischen Entwicklung und seiner Einspielungen.

Außer dem jazzüblichen Drogenproblem und dem frühen Tod durch Leberkrebs, zwei allerdings symptomatischen Punkten, gibt es in Coltranes Leben jenseits des Jazz nichts Ungewöhnliches und Auffallendes. Karl Lippegaus wagt es im deutschen Sprachraum nun als erster, auch den Menschen John Coltrane zu schildern. Dabei kommen ihm sein starkes Einfühlungsvermögen, aber auch seine profunde Kenntnis der Jazzentwicklung zupass.

Eine schöne Episode charakterisiert Lippegaus’ Buch am besten. Er legt einmal in seinem Dorf in Südfrankreich die alte verkratzte LP "Live at the Village Vanguard Again!" eines Coltrane-Quintetts von 1965 auf, und als der zweite Saxofonist Pharoah Sanders mit seinem Solo loslegt, beginnt plötzlich der Hahn des Nachbarn zu krähen. Die beiden kreischen so um die Wette, gehen so traumwandlerisch aufeinander ein, dass der Autor Tier und Instrument kaum mehr unterscheiden kann. Dass hier am tiefsten Geheimnis des Jazz gerührt wird, braucht Lippegaus dann gar nicht mehr eigens zu kommentieren. Es spricht für sich selbst.

Lippegaus beschreibt Coltranes Werdegang vom unauffälligen Musikschüler in Philadelphia, vom unauffälligen Mitspieler in Rhythm&Blues- und Jazz-Bigbands, bis zur entscheidenden Begegnung mit Miles Davis 1956. Auf den Platten "Milestones" und "Kind of Blue" werden die bis dato geläufigen und selbstverständlichen Harmonien außer Kraft gesetzt. Vom äußerst dominanten Miles lernt Coltrane viel – bis er sich von ihm emanzipiert und eigene Wege geht. Seine Entwicklung der modalen Spielweise, in der nicht mehr über vorgegebene Akkorde improvisiert wird, sowie die vertrackten Soli mit seinem eigenen Quartett ab 1959 künden von Coltranes gewachsenem Selbstbewusstsein.

Mit Miles Davis und John Coltrane stehen einander schließlich zwei Typen gegenüber, die ganz verschiedene ästhetische und auch weltanschauliche Konzeptionen verkörpern. Während es bei Miles um ein Schwingen und Kreisen mit einer bestimmten Energiedichte geht, um ein eher strukturelles Denken, gibt es bei Coltrane ein unablässiges Ansteigen und Vorwärtsschreiten und keinen Weg zurück.

Pointiert könnte man sagen: Das Erkenntnisinteresse bei Coltrane ist ein eher religiöses, bei Miles ein eher technisches. Wie Coltranes Entwicklung, im Gegensatz zu derjenigen Miles’, aus spirituellen Gründen ganz konsequent zum Free-Jazz führt, zur Entgrenzung, zur Ekstase – das zeigt Lippegaus hautnah. Coltrane hat den Jazz transzendiert, das ist seine Grundthese, und seine Begeisterung etwa für die erst spät veröffentlichten Bänder aus dem "Half Note"-Club 1965 teilt sich so unmittelbar mit, dass man sofort die CD heraussucht – und nicht nur diese.

Besprochen von Helmut Böttiger

Karl Lippegaus: John Coltrane - Biografie
Edel Verlag, Hamburg 2011
317 Seiten, 29,90 Euro