Codename Somerville

Das geheime Leben des William Somerset Maugham

Von Christian Blees |
William Somerset Maugham zählte Zeit seines Lebens zu den populärsten Schriftstellern der Welt. Sein Roman "Des Menschen Hörigkeit" ist bis heute eines der meist gelesenen Bücher überhaupt. Dass er als Agent für den britischen Geheimdienst arbeitete, weiß jedoch kaum jemand.
Zitator: Geheim! Ist Ihnen ein gewisser Somerset Maugham bekannt, der in Heidelberg studiert haben und sehr gut Deutsch sprechen soll? Er war eine Zeit lang in Luzern und zuletzt in Genf. Vor etwa fünf Wochen ist er angeblich aus England gekommen. Gibt sich für deutschfreundlich aus. Er gefällt mir nicht und ich möchte auf ihn aufmerksam gemacht haben.
Das Schreiben vom 25. September 1915 ist gerichtet an das Reichsamt für auswärtige Angelegenheiten in Berlin. Der Absender heißt Heinrich Jacoby. Jacoby leitet im Auftrag des Auswärtigen Dienstes ein in der Schweiz installiertes Netzwerk deutscher Spione. Zu deren Aufgaben gehört es unter anderem, gegnerische Agenten aufzuspüren und zu beobachten.
Kaiser Wilhelm II.: "An das deutsche Volk! Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande."
Schon bald nach dem Aufruf Kaiser Wilhelms des Zweiten vom 1. August 1914 ist fast ganz Europa in den Ersten Weltkrieg verstrickt. Es gibt nur wenige Ausnahmen. So bleibt unter anderem die Schweiz als neutraler Kleinstaat von direkten gewalttätigen Auseinandersetzungen verschont. Schnell etabliert sie sich als Sammelbecken für Spione aller möglichen Couleur. Aufgrund ihrer zentralen Lage lassen sich von hier aus sehr gut Kontakte zu verbündeten Kollegen in umliegenden Ländern knüpfen und aufrechterhalten. Auch dürfen die Agenten darauf hoffen, auf neutralem Gebiet relativ unbehelligt arbeiten zu können. Dass dies aber nicht ganz so einfach ist, lässt ein zweites Schreiben Heinrich Jacobys vermuten. Mitte Dezember 1915 berichtet er erneut nach Berlin.
Zitator: Im August hat sich Somerset Maugham in Luzern aufgehalten. Er blieb 14 Tage und gab vor, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit verlängern zu wollen. Als er hörte, dass ich mich nach Genf begeben wollte, beschloss er, mir dorthin zu folgen. Ich glaube, er ist direkt von England hergekommen, um mich zu überwachen.
Heinrich Jacoby liegt mit seiner Vermutung, bei Somerset Maugham könne es sich um einen feindlichen Spion handeln, genau richtig. Der Schriftsteller ist tatsächlich als Agent des britischen Geheimdienstes in die Schweiz gekommen. Als der Erste Weltkrieg beginnt, ist Maugham 40 Jahre alt – und in Deutschland noch völlig unbekannt. In seiner Heimat England dagegen hat er schon seit längerem großen Erfolg. Begonnen hatte Maugham seine Karriere allerdings weder als Spion noch als Autor, sondern als Arzt an einem Londoner Krankenhaus.
Selina Hastings: "Später sagte er, dies sei für ihn quasi der letzte Ausweg gewesen. Eigentlich habe er immer gewusst, dass er Schriftsteller werden wollte. Aber er dachte, falls er als Autor keinen Erfolg haben würde, dann könnte er zumindest Schiffsarzt werden – und so die Welt kennen lernen. Das war schon immer sein Wunsch gewesen."
Selina Hastings, Somerset-Maugham-Biografin aus London.
Selina Hastings: "Das St. Thomas Hospital lag in einem sehr armen Stadtteil, umgeben von Slums. Maugham hat als Arzt oft geholfen, unter schrecklichen Bedingungen Kinder zur Welt zu bringen. Das hinterließ bei ihm einen starken Eindruck, und darum spielt sein erster Roman in den Londoner Slums. Das Buch handelt von einer jungen Frau namens Liza. Es verhalf Maugham zu einer gewissen Aufmerksamkeit, und er dachte: "Wunderbar! Jetzt werde ich eine Karriere als Schriftsteller starten!"
So verheißungsvoll der Start als Schriftsteller 1897 mit LIZA OF LAMBETH begonnen hat, so schnell gerät Somerset Maughams Karriere auch schon wieder ins Stocken. In den folgenden zehn Jahren veröffentlicht er neben zwei weiteren Romanen auch mehrere Kurzgeschichten. Der Erfolg bleibt ihm aber versagt. Jahrzehnte später wird er sich im Gespräch mit einem deutschen Radiojournalisten erinnern:
Somerset Maugham: "Ich habe damals nicht viel verdient. In den ersten zehn Jahren meines Lebens als Berufsschriftsteller habe ich durchschnittlich nur hundert Pfund pro Jahr verdient."
Finanziell über Wasser halten kann sich Somerset Maugham in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nur, indem er nach und nach das Erbe seines ehemaligen Patenonkels aufbraucht. Bei diesem ist er nach dem frühen Tod beider Elternteile aufgewachsen. Angesichts seiner immer akuter werdenden Geldnot sattelt Maugham um und versucht sich fortan als Theaterautor. Sein erstes Stück bringt es auf ganze zwei Aufführungen. Und auch um den Nachfolger scheint es zunächst kaum besser bestellt.
Erfolgreichster Bühnenautor Englands
Selina Hastings: "Das Stück mit dem Titel 'Lady Frederick' war zuvor schon von 17 Londoner Bühnen abgelehnt worden, als er es dem Royal Court Theater in London anbot. Dort hatte man gerade ein anderes Stück wegen Erfolglosigkeit abgesetzt. Darum war das Theater auf der Suche nach Ersatz, um die sechswöchige Lücke füllen zu können. Der Manager sagte: "Egal - nehmen wir halt das hier!" Und Maughams Stück wurde zu einem riesigen Erfolg. Von da an ging es für ihn nur noch aufwärts. In den nächsten 25 Jahren war Maugham der erfolgreichste Bühnenautor Englands. Nur ein Jahr, nachdem 'Lady Frederick' gestartet war, liefen im Londoner Theaterviertel vier seiner Stücke gleichzeitig. Und er wurde sehr schnell sehr reich."
Sieben Jahre lang feiert Somerset Maugham als Bühnenautor einen Erfolg nach dem anderen. Doch 1914 zieht er sich aus dem hektischen Theaterleben mit all seinen glamourösen Premierenfeiern zurück. Stattdessen beginnt er, einen stark autobiografisch gefärbten Roman zu schreiben. "Of Human Bondage" entwickelt sich schon bald nach Erscheinen zum Bestseller. Bis zur deutschen Erstveröffentlichung unter dem Titel "Der Menschen Hörigkeit" wird es allerdings bis 1939 dauern.
Als der Erste Weltkrieg beginnt, meldet sich der inzwischen 40-jährige Maugham freiwillig, um an der Front als Arzt zu dienen. Ein Jahr später, im Sommer 1915, kehrt er zurück nach England. Kaum in London angekommen, wird Somerset Maugham eines Tages von einem Vertreter des britischen Geheimdienstes angesprochen.
Nigel West: "Das war offenbar reiner Zufall. Bei Maugham gibt es dazu nur einen einzigen Hinweis. Demnach hat er auf einer Party einen gewissen 'Colonel R.' kennengelernt."
Nigel West, Experte für Geheimdienste und Autor mehrerer Bücher zum Thema.
Nigel West: "Heute wissen wir, dass es sich bei 'Colonel R.' um einen von zwei Brüdern gehandelt haben muss. John und Ernest Wallinger waren beide als leitende Offiziere im britischen Geheimdienst tätig. Und einer von ihnen hat Maugham offenbar angeworben."
Der Name "Colonel R." taucht gleich mehrfach in verschiedenen Kurzgeschichten auf, in denen Somerset Maugham Jahre später seine Tätigkeit als britischer Spion literarisch verarbeiten wird. In den stark autobiografisch gefärbten Episoden gibt der Autor seinem Protagonisten den Namen Ashenden. Das von Nigel West erwähnte, erste Aufeinandertreffen Maughams alias Ashenden mit Colonel R. findet statt in einer Episode mit dem Titel "Miss King".
Zitator: Auf einer Party lernte der Schriftsteller Ashenden einen Obersten kennen, einen Mann in mittleren Jahren, dessen Namen er beim Vorstellen nicht verstand. Er unterhielt sich eine Weile mit ihm. Als er nach Hause wollte, kam dieser Offizier noch einmal auf ihn zu und fragte: "Würde es Ihnen was ausmachen, mich gelegentlich zu besuchen? Ich möchte mich gerne mal ausführlicher mit Ihnen unterhalten."
"Gewiss", antwortete Ashenden. "Wann Sie wollen."
"Wie wär‘s morgen um elf?"
"Gut."
Als Ashenden am nächsten Vormittag der Verabredung nachkam, führte ihn sein Weg in eine Straße, die aus ziemlich ordinären Backsteinhäusern bestand und in einem Londoner Viertel lag, das einst als vornehm gegolten hatte, nun aber in der Achtung der Leute gesunken war, die auf eine noble Adresse Wert legten. An dem Haus, das Ashendens Ziel war, hing ein Schild "Zu verkaufen", die Fensterläden waren geschlossen, und kein Zeichen verriet, dass noch jemand darin wohnte. Auf Ashendens Klingeln wurde die Tür jedoch so prompt von einem Unteroffizier geöffnet, dass er etwas zusammenzuckte. Der Oberst - der, wie Ashenden später entdeckte, im Geheimdienst unter der Chiffre R bekannt war - erhob sich bei seinem Eintritt und schüttelte ihm die Hand. Er stellte Ashenden eine Reihe von Fragen und erklärte dann ohne weitere Umschweife, dass er für den Geheimdienst ganz besonders geeignet wäre. Ashenden beherrschte mehrere europäische Sprachen und sein Beruf war ein ausgezeichneter Deckmantel; unter dem Vorwand, ein Buch zu schreiben, konnte er jedes neutrale Land besuchen, ohne Verdacht zu erregen.
Als Ashenden aufstand, hatte er seine Instruktionen bereits sorgfältig notiert. Bereits am nächsten Tag sollte er nach Genf abreisen.
Spärliche Aktenlage zur Agententätigkeit
Nigel West: "In Genf hatte er den Auftrag, ein bereits existierendes Netzwerk von Agenten zu betreuen, von denen einige die Schweiz als Durchgangsstation für ihre Reisen nutzten. Andere Spione kamen aus Frankreich herüber, um Maugham mit Informationen zu versorgen. Vieles von dem Material war in Geheimsprache verfasst, aber nicht immer war es seine Aufgabe, die entsprechenden Nachrichten selbst zu entschlüsseln. Alle paar Tage fuhr er mit der Fähre über den Genfer See, um die Informationen an einen anderen Agenten weiterzugeben. Er arbeitete also als eine Art Mittelsmann."
Die offizielle Aktenlage zu Somerset Maughams Einsatz als Spion im Ersten Weltkrieg ist spärlich. Immerhin: Die vorhandenen Dokumente belegen, dass die deutsche Spionageabwehr seiner Tarnung als gewöhnlicher Schriftsteller von Anfang an misstraut hat. Heinrich Jacoby, leitender Agent des deutschen Kaisers in der Schweiz, schreibt:
Zitator: Wie bereits in einem früheren Bericht erwähnt, sollte Maugham sorgfältig beobachtet werden. In Luzern fragte er mich, ob sich ein ägyptischer Gouverneur in der Schweiz aufhielte. Ich sagte ihm, dass ich so etwas in der Zeitung gelesen hätte, und er antwortete, er habe den Ägypter womöglich im Kursaal gesehen. Auch wollte er meine Meinung zu den verschiedenen Regionen in Ägypten wissen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Maugham die Orientalen sehr genau im Auge behält.
Ägypten steht während des Ersten Weltkriegs unter dem militärischen Schutz der Briten. Für diese besitzt der Suezkanal enorme strategische Bedeutung. Insofern erscheint es gut nachvollziehbar, dass sich Somerset Maugham Ende 1914 offenbar für den Verbleib eines Ägypters in der Schweiz interessiert. Warum genau er diesen treffen oder womöglich auch nur beobachten soll – darüber lässt sich im Abstand von einhundert Jahren allerdings nur spekulieren.
Nigel West: "Bei einer Operation, von der wir wissen, dass Somerset Maugham in sie verwickelt war, sollte er einen vermeintlichen Verräter überführen. Dieser war mit einer deutschen Frau verheiratet und wurde verdächtigt, als Doppelagent zu arbeiten. Maugham hat dies in einer seiner Ashenden-Geschichten verarbeitet. Der Plan sah vor, den Verräter zunächst auf alliiertes Gebiet zu locken. Dort sollte er dann festgenommen, verhört und schließlich vor Gericht gebracht werden."
Zitator: Bevor Ashenden damals als Chef einer Anzahl von Spionen in die Schweiz geschickt worden war, hatte R. ihm als Muster für die Art von Berichten, die im Hauptquartier verlangt werden würden, ein maschinengeschriebenes Aktenstück überreicht, das von einem Mann stammte, der im Geheimdienst unter dem Namen Gustav bekannt war. "Er ist unser bestes Pferd im Stall", erläuterte R. Gustav wohnte in Basel und war Vertreter einer Schweizer Firma, die auch in Frankfurt, Mannheim und Köln Filialen hatte. Sein Beruf ermöglichte es ihm, ungefährdet aus- und einzureisen. Bei seinen Reisen rheinabwärts und –aufwärts sammelte er Beobachtungsmaterial über Truppenbewegungen, Munitionsherstellung und die allgemeine Stimmung in Deutschland. Gustavs regelmäßige Briefe an seine Frau in Basel waren raffiniert verschlüsselt; sie schickte sie nach Empfang sofort an Ashenden weiter. Das ging über ein Jahr, bis irgendetwas plötzlich R.s Misstrauen erweckte. Er witterte Ungutes und trug Ashenden auf, nach Basel zu fahren, um sich einmal näher mit Gustavs Frau zu unterhalten.
Als Leser kann man nur spekulieren, wieviel in Maughams Agentengeschichten Fiktion ist und wieviel tatsächlich der Realität entspricht. In der Episode mit dem Titel "Der Verräter" gelingt es Ashenden nicht nur, den Mann namens Gustav als Doppelagent zu entlarven. Unter einem Vorwand bringt er diesen sogar dazu, sich auf den Weg nach England zu machen. Wie zuvor geplant, wird der Verräter nach dem Betreten französischen Bodens verhaftet. Am Ende steht Gustavs Exekution.
Nigel West: "Maughams erste Mission war relativ kurz. Sie begann im September 1915. 1916 kehrte er nach England zurück und verabschiedete sich vorübergehend vom Geheimdienst. Stattdessen trat er einen längeren Trip in die Südsee an – wobei Gerüchte besagen, dass auch diese Reise durchaus einen geheimdienstlichen Hintergrund gehabt haben könnte."
Somerset Maugham liebt es, ferne Länder und fremde Kulturen kennen zu lernen, um das Erlebte anschließend literarisch verwerten zu können. Auch die mehrmonatige Südseetour tritt er offiziell an, um Ideen für Kurzgeschichten zu sammeln. Als er im Frühjahr 1917 zurückkehrt, wird er prompt erneut vom Geheimdienst angesprochen.
Nigel West: "Wären Sie bereit, für uns als Geheimkurier Kontakt zur Kerenski-Regierung aufzunehmen? Maugham willigte ein – und reiste nach Murmansk. Anschließend fuhr er mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter nach St. Petersburg. Dort begann er heimlich, Verhandlungen mit der Kerenski-Regierung aufzunehmen."
Alexander Fjodorowitsch Kerenski ist Chef der russischen Übergangsregierung, Diese hat nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 vorübergehend die Macht übernommen.
Zitator: Nach Ashendens Eindruck war die Situation kritisch und drängte zu raschen Entscheidungen. In der Armee drohten täglich Meutereien, die schwache Kerenski-Regierung wackelte bedenklich und hielt sich eigentlich nur noch, weil niemand sonst den Mut hatte, die Macht zu ergreifen.
Schecks in sechsstelliger Höhe von den Alliierten
Kerenskis Kabinett steht vor der Frage, ob Russland den Krieg an der Seite Großbritanniens und Frankreichs weiterführen soll oder nicht. Angesichts der prekären Lebensmittelversorgung sowie rebellierender Bürger und Soldaten erscheint ein Separat-Frieden mit Deutschland möglicherweise die bessere Alternative. Am 19. September 1917 berichtet Somerset Maugham seinen Auftraggebern in London:
Zitator: Weitverbreitete Meinung ist, dass es zwar keinen Separat-Frieden geben wird, aber möglicherweise nur passiven Widerstand an der russischen Front. Im Winter werden in St. Petersburg außerdem gewalttätige Aufstände erwartet.
Somerset Maugham ist von den Alliierten mit Schecks in sechsstelliger Höhe ausgestattet worden. Das Geld soll vor allem dazu dienen, Flugblätter und Plakate drucken zu lassen, die einen Verbleib Russlands im Krieg propagieren. Wie schon zwei Jahre zuvor in der Schweiz, hält sich Somerset Maugham auch diesmal offiziell als Schriftsteller in St. Petersburg auf. Für die verschlüsselten Botschaften, die er nach London absetzt, wählt er den Tarnnamen "Somerville".
Nigel West: "Der Name 'Somerville' taucht auch in den Ashenden-Geschichten auf – als ob das ein Alias gewesen sei, unter dem er als Agent gearbeitet hat. Dabei wissen wir ganz sicher, dass Maugham in der Realität immer unter seinem eigenen Namen aufgetreten ist. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass er die Bezeichnung 'Somerville' nur dann verwendet hat, wenn es darum ging, Telegramme an das Hauptquartier in London abzusetzen. Indem er seine wahre Identität verschlüsselte, wäre diese selbst dann gewahrt geblieben, falls der Feind das Telegramm abgefangen und entschlüsselt hätte."
Im Oktober 1917 wird Somerset Maugham von Alexander Kerenski empfangen. Dieser fungiert inzwischen als russischer Kriegsminister. Kerenski fordert Maugham auf, die britische Regierung um weitere finanzielle Unterstützung zu bitten. Andernfalls seien die aufständischen Bolschewiki kaum in Schach zu halten – und somit der drohende Separat-Frieden mit Deutschland wohl nicht mehr zu verhindern.
Zitator: Es kostete Ashenden 24 Stunden angespannter Arbeit, ein Code-Telegramm an seine Auftraggeber abzusetzen. Seine darin gemachten Vorschläge wurden gutgeheißen und die noch benötigten Summen im Voraus bewilligt. Ashenden konnte seine Pläne jedoch nur unter der Voraussetzung ausführen, dass die Interimsregierung noch für ein Vierteljahr am Ruder blieb. Indessen kam der Winter, und die Vorräte gingen täglich mehr zur Neige. Die Armee meuterte. Das Volk verlangte laut nach Frieden. Dann fiel der Schlag. In der Nacht des 7. November 1917 erhoben sich die Bolschewiken, die Kerenski-Regierung wurde verhaftet und der Winterpalast vom Pöbel gestürmt. Lenin und Trotzki ergriffen die Zügel der Macht.
Mit der Oktober-Revolution in Russland geht Somerset Maughams Job als britischer Agent erfolglos zu Ende. In den Jahren ab 1918 unternimmt er mehrere Reisen – vor allem in den Fernen Osten – und konzentriert sich wieder auf das Schreiben. 1926 kauft Maugham in Cap Ferrat an der französischen Riviera eine Villa. Inzwischen ist er so wohlhabend, dass er seinen neuen Wohnsitz mit Originalwerken namhafter zeitgenössischer Künstler dekorieren kann, darunter Renoir oder Picasso. Zwei Jahre nach dem Umzug nach Frankreich macht sich Maugham endlich daran, seine Erlebnisse als Spion in rund zwei Dutzend Kurzgeschichten zu verarbeiten.
Selina Hastings: "Als er die insgesamt 28 Geschichten fertig hatte, zeigte er sie Winston Churchill, mit dem er schon seit langem befreundet war. Churchill bestand darauf, dass Maugham die Hälfte davon vernichten solle, weil sie zu detailliert verrieten, wie Geheimdienste arbeiteten. Als die dann letztlich erschienen, erhielten sie viel Lob. Allerdings waren sie keine Bestseller. Das könnte daran gelegen haben, dass sie ganz anders waren als andere Spionagegeschichten, die bis dahin erschienen waren – wie zum Beispiel "Die 39 Stufen" von John Buchan. In denen war es immer um Supermänner gegangen, die die tollsten Abenteuer erlebten. Maugham war der Erste, der erzählte, wie Geheimagenten wirklich arbeiteten und wie unglaublich langweilig das oft war."
Zitator: Ashendens Dienst war im Allgemeinen so gleichförmig wie der eines städtischen Angestellten. Er traf sich in regelmäßigen Zeitabständen mit seinen Spitzeln und zahlte ihnen die vereinbarte Vergütung; wenn er einen geeigneten neuen Mann fand, engagierte er ihn, gab ihm seine Anweisungen und schickte ihn nach Deutschland. Dann wartete er die Informationen ab und gab sie weiter.
Thomas Wörtche: "Was er macht: Er professionalisiert einerseits den Spion mental und psychologisch."
Thomas Wörtche, Experte für Kriminal- und Spionageliteratur, über die Figur des Ashenden in den Kurzgeschichten.
"Andererseits ist er natürlich auch ein Amateur-Spion. Das ist ein angeworbener Mann, ein Autor von Komödien, der sozusagen zu seinem Vergnügen für den britischen Geheimdienst arbeitet – dabei aber eine unglaubliche Eiseskälte entwickelt, zweckrational ist. Ideologien interessieren ihn relativ wenig bis überhaupt nicht. Er ist ein Zocker, ein Spieler, in der Tat. Er hängt die Leute mit einer Gnadenlosigkeit, mit einer Grausamkeit rein, und das Ganze in einem sehr kühlen Ton geschrieben, mit einer großartigen Prosa."
Zitator: Ihre Augen flackerten. "Ja", sagte Ashenden, "es heißt jetzt: er oder Sie."
Sie wankte und presste die Hand ans Herz. Dann setzte sie sich und griff wortlos nach Feder und Tinte. Aber der Brief, den sie schrieb, war nicht nach Ashendens Geschmack, und er nötigte sie, ihn noch einmal zu schreiben. Nach dem letzten Federstrich warf sie sich aufs Bett und brach wieder in leidenschaftliches Schluchzen aus. Ihre Verzweiflung war echt, aber das Theatralische in der Art ihres Ausdrucks verhinderte, dass Ashenden sich sonderlich davon rühren ließ. Seine Beziehung zu der Weinenden war so unpersönlich wie die eines Arztes, der Schmerzen mit ansieht, die er nicht beheben kann. Er verstand jetzt, warum R. gerade ihn mit dieser heiklen Aufgabe betraut hatte, die einen kühlen Kopf und vollkommende Beherrschung aller inneren Regungen verlangte.
"Es geht meistens um Manipulationen von Menschen"
Thomas Wörtche: "Es geht meistens um Manipulationen von Menschen. Und das ist spannend, sehr spannend. Also: Wie bekommt man zum Beispiel die italienische Geliebte eines indischen Politikers dazu, ihn in eine Falle zu locken, von der er weiß – und von der alle wissen –, dass sie tödlich enden wird. Wie bekommt man einen britischen Überläufer dazu, freiwillig nach England zurückzukehren, obwohl man weiß, dass er erschossen wird? Das sind diese wirklich spannenden Sachen: Wie manipuliert er Leute?"
Mit seinen Ashenden-Stories wird Somerset Maugham zum Vorbild für manch anderen berühmten Schriftsteller von Spionagegeschichten – allen voran Eric Ambler und John LeCarré.
Thomas Wörtche: "Ambler hat sicher diesen kalten Ton von ihm; auch diese Heldenfiguren oder Figuren, die unbeabsichtigt mal reinrutschen. Das ist auch ein bisschen amblerisch. Ambler hat natürlich auch den Blick für Komik der Situation und hat eben auch diesen kristallinen Blick auf die Welt, sozusagen."
Eric Ambler schreibt in seiner Autobiografie:
Zitator: Ich hatte gesehen, wie schwierig es war, mitten in einer Wirtschaftskrise Bücher zu verkaufen. Und ich saß schon eifrig an einem neuen. Bei dieser Arbeit half mir Eileen Bigland. Sie war eine seriöse Schriftstellerin, die sich mit der Durchsicht von Thrillern und dergleichen nebenher etwas Geld verdiente. Sie kam, bei einem Gläschen oder zweien, auf die bevorstehenden Probleme zu sprechen. "Lass den Leser nicht allein. Nimm ihn an die Hand. Was waren deine Vorbilder?" Ich nannte eine ganze Liste, die mit Stevenson begann und über Gogol bis hin zu Pirandello und James Joyce reichte. Sie nickte bekümmert. Es war mehr oder weniger das, was sie erwartet hatte. "Versuch’s mal mit Somerset Maugham", sagte sie. "Ich denke an 'Ashenden' und an die anderen Erzählungen. Er ist kein großer Romancier, aber ein wunderbarer Erzähler. Und bei den Geschichten, die er erzählt, wird nie herumgepfuscht."
Thomas Wörtche: "Und wenn schon Le Carré etwas gelernt hätte von Somerset Maugham, dann sicher diese doppelt und dreifach codierten Dialoge: Zwei Leute sitzen irgendwo, unterhalten sich, und sie meinen aber etwas ganz anderes. Und so etwas ist natürlich bei Somerset Maugham auch schon präfiguriert. Deutlich ist auf jeden Fall, dass ausgerechnet einer seiner größten Verehrer – Ian Fleming nämlich, der James-Bond-Autor – nun wirklich gar nichts kapiert hat von ihm. Denn die James-Bond-Romane sind absolut das Gegenteil: die sind ja völlig rassistisch, actionhaltig – alles das, was Somerset Maugham nicht ist."
An die Verkaufszahlen von Ian Fleming, John Le Carré oder Eric Ambler reichen Somerset Maughams Agenten-Geschichten bis heute nicht heran. Seine Theaterstücke und Romane aber – allen voran "Der Menschen Hörigkeit" – machen ihn zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Selina Hastings: "Er wäre sehr gerne als intellektueller Schriftsteller wahrgenommen worden. Aber dazu war er wohl zu populär. Maugham wurde in 70 verschiedene Sprachen übersetzt, seine Bücher verkauften sich millionenfach. Und ich glaube, es hat ihn gestört, dass die Intellektuellen etwas auf ihn herabgesehen haben. Obwohl er behauptete, das habe ihm nichts ausgemacht. Das wage ich aber zu bezweifeln."
1959, im Alter von 85 Jahren, beendet Somerset Maugham seine Schriftsteller-Karriere. Insgesamt hat er 78 Bücher veröffentlicht. Darunter befinden sich viele Erzählungen, in denen sich Maughams anhaltende Reise- und Abenteuerlust widerspiegelt. Erst in den letzten Jahren seines Lebens beschränkt sich der Autor darauf, in seiner Villa in Frankreich Freunde und berühmte Zeitgenossen aus der ganzen Welt zu empfangen. Am 16. Dezember 1965, fünf Wochen vor seinem 92. Geburtstag, stirbt Somerset Maugham an einer Tuberkulose. Er hinterlässt eine Tochter.
Somerset Maugham: "Ich habe gehört, dass man meine Bücher überall in der Welt liest, auch auf Universitäten und Schulen, um aus ihnen Englisch zu lernen. Denn sie sind alle in einem nicht zu komplizierten Stil geschrieben. Aber ich hoffe, dass die Menschen, die meine Bücher zum Englischlernen benutzen, dabei auch etwas Freude haben."
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