Co-Parenting

"Wir teilen uns ein Kind"

Lior Shohat (l) und Yehoshua Gurtler (r) haben in ihrer Wohnung in Tel Aviv, Israel, ihre Kinder Noa (v.l) und Juval auf dem Schoß. Gurtler ist religiöser Jude und schwul.
Kinder zu haben gehört in Israel dazu - auch für Alleinstehende und Homosexuelle. © picture alliance / dpa / Sara Lemel
Von Lissy Kaufmann · 03.02.2017
Ein Kind mit einem schwulen Freund – in Israel ist das nichts Ungewöhnliches. Kinderkriegen ist ein Gebot. Das gilt auch für Homosexuelle und Alleinstehende. Und so hat sich vor allem in Tel Aviv eine alternative Form der Elternschaft etabliert: Co-Parenting.
Gerade hat Gali ihren jüngsten Sohn Aner aus der Badewanne geholt. Sie hilft dem Dreijährigen, in den Schlafanzug zu schlüpfen. Es ist kurz nach sechs. Gleich gibt es Abendbrot, die beiden warten noch auf Vater Yaakov und den älteren Sohn Iftach.
Es klingt wie ein ganz normaler Familienabend, hier in Tel Aviv. Das ist es auch – fast zumindest. Gali Arbel und Yaakov Menachem wohnen nicht zusammen, sie sind noch nicht einmal ein Paar und waren es nie. Yaakov ist schwul, Gali alleinstehend. Doch dank In-vitro-Fertilisation, also Befruchtung im Reagenzglas, haben die beiden zusammen zwei Kinder.
"Einen Tag sind die Kinder bei ihm, einen Tag bei mir. Aber wir sehen die Kinder fast jeden Tag, meistens essen wir zusammen zu Abend. Oder wir kommen zum Gutenacht-Sagen vorbei. Es ist nicht komplett getrennt aufgeteilt."
Seid fruchtbar und mehret euch, heißt es im ersten Buch Mose. Kinder zu haben ist im Judentum eine Mitzwa, also ein Gebot. Und das Stereotyp der jüdischen Mutter, die sich nicht sehnlicher wünscht als Enkelkinder, ist in Israel gar nicht so realitätsfern.
So ist Israel das Industrieland mit der höchsten Geburtenrate. Drei Kinder bringt eine Frau hier im Schnitt zur Welt. Im OECD-Durchschnitt sind es gerade mal 1,7 Kinder pro Frau. Kinder zu haben gehört in Israel dazu. Das gilt auch für Alleinstehende und Homosexuelle. Gali hatte Ende 30 keinen festen Partner, wollte aber Kinder. Und für Yaakov kam weder eine Adoption noch eine Leihmutterschaft infrage, wie er erzählt.
"Mir war es wichtig, dass es eine Mutter gibt. Ich war in keiner ernsthaften Beziehung mit einem Mann, in der so eine Option möglich gewesen wäre. Und ich bin eben sehr konservativ. Mir war es wichtig, dass es eine Mutter und einen Vater gibt."

Kinderkriegen: "Es ist hier ein fürchterlich starkes Bedürfnis"

Yaakov und Gali lernten sich durch das Zentrum für Alternative Elternschaft kennen. Seit 22 Jahren hilft diese Organisation alleinstehenden oder lesbischen Frauen und Schwulen mit Kinderwunsch, zusammenzufinden, für die gemeinsame Elternschaft. Das Zentrum war eines der ersten seiner Art weltweit erklärt Gidi Shavit, einer der beiden Gründer.
"Unser Bedürfnis, Kinder zu kriegen, ist wohl hier in Israel größer als in Europa, in den USA oder Japan. Es ist hier ein fürchterlich starkes Bedürfnis. Und um dieses Bedürfnis haben wir uns gekümmert."
Bereits 400 Elternpaare haben sich durch das Zentrum für Alternative Elternschaft befunden. Einmal in der Woche organisiert Gidi dafür ein Gruppentreffen. Oftmals laufen die Begegnungen ähnlich ab wie bei Singles auf der Partnersuche. Nur, dass es hier eben nur um die Kinder geht, erzählt Gali. Sie hat Yaakov vor sieben Jahren kennengelernt.
"Das erste Mal, dass ich zu den Treffen kam, traf ich Yaakov. Ich habe nach jemandem gesucht, bei dem es Klick macht. Bei einem Partner würde man sagen, man verliebt sich. Hier würde ich sagen: Die Chemie muss stimmen. Und die hat gestimmt. Wir haben angefangen, zusammen auszugehen, Ausflüge gemacht, Kaffee getrunken, viel geredet, er hat mich zu Familienessen eingeladen."
Wenn sich ein Elternpaar gefunden und sich für gemeinsame Kinder entschieden hat, unterstützt das Zentrum für Alternative Elternschaft dabei, einen Vertrag aufzusetzen, erklärt Racheli Bar Or, die Mitgründerin.
"Die Grundlagen dieses Vertrages sind ähnlich wie bei einem Vertrag von geschiedenen Eltern. Aber wir haben dann noch einige neue Elemente dazugekommen. Im Vertrag wird zum Beispiel festgelegt, wann das Kind bei welchem Elternteil ist, finanzielle Dinge werden darin geregelt, wie weit die beiden maximal auseinander wohnen werden, sowie Mechanismen, wie Streit gelöst werden soll. Anwälte arbeiten heute mit diesen Verträgen und von Gerichten werden sie akzeptiert."
Gemeinsame Elternschaft, das bedeutet auch, schwierige Entscheidungen nicht alleine treffen zu müssen und die Verantwortung so wie die Kosten zu teilen. Aber es bedeutet auch, dass die Kinder Hin- und Hergerissen sind, zwischen zwei Wohnungen, zwei Kinderzimmern, einer Mutter und einem Vater.

"Anfangs galten wir als radikal"

Es ist wie bei geschiedenen Eltern, nur, dass Eltern wie Gali und Yaakov das von vornherein genau so geplant haben. Ist das egoistisch? Nein, glaubt Racheli Bar-Or. Den Vorwurf, ein Kind brauche eine traditionelle Familie und Eltern, die zusammenleben, lässt sie nicht gelten. Nur weil sich Eltern ein Bett teilten, heiße das nicht, dass es keine Probleme gäbe und Kinder behüteter aufwachsen. Mit dieser Einstellung sind sie und Gidi anfangs auf Widerstand gestoßen.
"Anfangs galten wir als radikal. Wir haben plötzlich einen schwulen Vater ins Spiel gebracht und haben gesagt, dass er auch ein guter Vater sein kann. Das war radikal und tollkühn. Im Laufe der Jahre wurden wir aber altmodisch. Denn die Einstellung, das jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat, ist heute altmodisch."
Gidi und Racheli sind überzeugt, dass ein Kind eine Mutter und einen Vater braucht, dass es aber egal ist, ob die Eltern auch wirklich ein Paar sind. In einer Stadt wie Tel Aviv ist das schon lange nicht mehr radikal. Hier haben sich die verschiedensten Formen von Elternschaft etabliert. In manchen Kindergärten ist die Zahl von Kindern mit homosexuellen oder alleinerziehenden Eltern genauso groß ist wie die Zahl der Kinder von verheirateten Paaren.
Doch nicht nur in Tel Aviv freuen sich Israelis über Nachwuchs. Das zeigt das Beispiel der Knesset-Abgeordneten Meirav Ben Ari. Sie hatte im Sommer verkündet, dass sie ein Kind von einem schwulen Freund erwartet. Nicht nur hier, in ihrem Wohnort Tel Aviv, auch in Jerusalem und in anderen Landesteilen, war die Freude groß.
"Die Reaktionen waren wirklich gut, das hat mich überrascht, aus allen Richtungen, sogar die Ultraorthodoxen, die Araber, die Säkularen. Alle haben mich unterstützt. Das liegt daran, dass in Israel alle das Kinderkriegen unterstützen, selbst wenn es mit einem schwulen Partner ist.
Ich hatte auch viele Nachrichten auf Facebook von anderen Frauen, die sich noch nicht entschieden haben und meinten, ich hätte sie inspiriert. Ich denke, Israel ist viel liberaler als wir manchmal denken."

"Die Liebe ist eine moderne Erfindung"

Dass selbst die Ultraorthodoxen von dieser Form der Elternschaft nicht zurückschrecken und sich über den Nachwuchs freuen, findet Racheli Bar Or vom Zentrum für Alternative Elternschaft wenig überraschend. Denn auch Stammvater Abraham hätte ja nicht mit einer Frau in einem Zelt gewohnt.
"Im Grunde gehen wir zum Judentum von ganz früher zurück. Die Verbindung zwischen zwei Menschen ist die Notwendigkeit, Kinder auf die Welt zu bringen. Die Liebe ist eine moderne Erfindung. In diesem Sinne sind wir sehr postmodern, weil wir zu dieser alten grundlegenden Verbindung zwischen Männern und Frauen zurückkehren, bei der es darum geht, Kinder zu bekommen."
Doch anders als im antiken Judentum, als die Mutter sich allein um den Nachwuchs kümmerte, teilen sich Eltern wie Gali und Yaakov heute die Elternschaft gleichmäßig auf. Wie im Vertrag vereinbart, wohnen sie nur wenige Gehminuten voneinander entfernt. Als die Kinder gerade geboren waren, haben sie ein paar Monate lang zusammengelebt. Und freitagabends gehen sie alle vier gemeinsam zum Schabbat-Dinner bei Yaakovs Familie.
"Mir war es sehr wichtig, jemanden mit einer warmen Familie zu finden. Ich wollte, dass meine Kinder zumindest von einer Seite aus mit einer großen Familie groß werden."
Wie viele Eltern sich wie Yaakov und Gali in Israel Kinder teilen, ist nicht bekannt. Nur das Zentrum für Alternative Elternschaft kann über die eigenen Zahlen sprechen. Mehr als 400 waren es bisher. Aber die Gründer Gidi und Racheli wissen, dass sich mittlerweile viele auch ohne ihre Hilfe für diesen Schritt entscheiden.
Israel ist ein Vorreiter, was die geteilte Elternschaft angeht. Doch Gidi und Racheli sind überzeugt, dass auch andere Ländern reif sind für diese Form der Elternschaft. Sie hören sich deshalb derzeit im Ausland um. Wenn Interesse besteht, wollen sie ihre Arbeit auch dort fortsetzen.
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