Claude Lanzmann erhält Berlinale-Bären für sein Lebenswerk

"'Shoah' ist ein Film für die Ewigkeit!"

Der französische Filmemacher und Regisseur Claude Lanzmann
Der französische Filmemacher und Regisseur Claude Lanzmann © picture alliance / dpa / Frédéric Dugit
Claude Lanzmann im Gespräch mit Ulrike Timm |
Mit seiner Holocaust-Dokumentation "Shoah" hat Claude Lanzmann 1985 nicht nur die Filmwelt erschüttert. Auf der Berlinale wird der 87-Jährige heute für sein Lebenswerk geehrt. Vor der Ehrung spricht Lanzmann über seine eigenen Kriegserlebnisse und seinen Kampf "gegen die Deutschen".
Ulrike Timm: Der große französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann wird bei der Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Berühmt wurde er für seine Dokumentation "Shoah", Sie hören ihn gleich selbst.

Und gestern hatte ich Gelegenheit zu einer Begegnung mit Claude Lanzmann, inzwischen 87 Jahre alt, eine wirklich ehrfurchtsgebietende Persönlichkeit. Und ich habe ihn erst mal von ganzem Herzen für diese Auszeichnung, für den Ehrenbären der Berlinale, dazu gratuliert!

Claude Lanzmann: Je suis enchanté aussi!

Timm: Shoah, Monsieur Lanzmann, wir haben von Ihnen diesen Begriff überhaupt erst kennengelernt. Eben haben Sie die rekonstruierte Fassung in Teilen gesehen, auf der großen Leinwand, im voll besetzten Kino, in Deutschland, aus Anlass der Verleihung des Ehrenbären an Sie. Was bedeutet Ihnen das?

Lanzmann: Es ist immer noch der gleiche Film, nur mit neuer Technik aufgearbeitet. Die Bildqualität und der Ton sind besser. Diesen Film auf einer riesigen Leinwand zu sehen, war eine große Freude für mich, und dem Film verleiht dies noch mehr Kraft.

Timm: Im Rahmen der Zeremonie, wenn diese Auszeichnung an Sie verliehen wird, wird aber ein anderer Film zu sehen sein. Nämlich "Sobibor", das einzige Vernichtungslager, in dem es einen bewaffneten Aufstand gab. Ich habe mich gefragt, war das Ihr Wunsch, diesen Film zu zeigen, einen Film, wo Juden sich wehren?

Aufstand im Vernichtungslager

Lanzmann: Es war der Wunsch des Festivals, von Direktor Dieter Kosslick, "Sobibor" anlässlich der Verleihung des Ehrenbären zu zeigen. Ich bin nicht gefragt worden. Aber es ist eine exzellente Wahl, das hat Klasse, an dem Abend, an dem ich den Goldenen Bären verliehen bekomme, einen Film zu zeigen, in dem die Juden Deutsche töten.
Die Juden waren nicht bewaffnet, sie mussten Deutsche töten, um an Waffen zu kommen. Es gab andere Aufstände, wo die Juden auch bewaffnet waren, in Treblinka zum Beispiel. Aber da ist der Aufstand ja fehlgeschlagen. Die Entscheidung hat mich sehr bewegt und zeigt, dass die Verantwortlichen großartiges Fair Play an den Tag gelegt haben.

Timm: In diesem Film, "Sobibor", da sprechen Sie mit Yehuda Lerner. Das ist der Mensch, der einem SS-Schergen den Schädel spaltete. Und so nahm dieser Aufstand seinen Anfang, in diesem Vernichtungslager. Yehuda Lerner war damals keine 18 Jahre alt, er war ungefähr so alt wie Sie selbst, Monsieur Lanzmann, als Sie in den Untergrund gingen und mit der Résistance gegen die Nazis kämpften.
Ich habe mich gefragt – Sie haben so viele Menschen interviewt und befragt –, ob Ihnen dieser Yehuda Lerner aus dem Film "Sobibor", ob der Ihnen ganz besonders nah ist?

Lanzmann: Es war ein außergewöhnlicher Aufstand, das war das entscheidende Element. Die Planung, überhaupt die Vorstellung einer Revolte, und dann diese Entschlossenheit. Man darf jedoch nicht vergessen – und das wollte ich mit dem Film auch zeigen –, der Aufstand von Sobibor war von jüdischen Soldaten der Roten Armee durchgeführt worden, von Leuten, die wussten, wie man mit Waffen umgeht, die gelernt hatten, mit Gewalt umzugehen, nicht wie die armen Juden sonst, die zu den Schlächtern geführt wurden.
Ich wage es nicht, eine Parallele zwischen mir und Yehuda Lerner zu ziehen, weil er viel mehr gelitten hat als ich. Er war in sieben Lagern. Ich hingegen habe gleich angefangen, gegen die Deutschen zu kämpfen. Ich habe auch welche umgebracht. Aber nicht mit einer Axt, sondern mit einem britischen Schnellfeuergewehr. Ja, ich habe Deutsche in Frankreich getötet.

Timm: Monsieur Lanzmann, Sie haben auch mit Tätern gesprochen und Sie haben sich schildern lassen, wie man das macht, Menschen zu vergasen. Viele Täter haben Sie ganz offen angelogen, sie wüssten von nichts, sie hätten nichts bemerkt. Ich vermute, das haben Sie schon viele gefragt, aber verzeihen Sie mir es, denn jede Generation sieht den Film ja auch anders: Wie haben Sie das ausgehalten, wenn Ihnen jemand über Stunden, über Tage vor der Kamera versichert hat, alles sei ohne sein Zutun passiert, wie haben Sie die Nerven bewahrt?

Lanzmann: Zunächst einmal wusste ich doch, dass diese Leute mich anlügen, das war klar. Aber ich habe sie auch belogen. Ich habe sie mit Ausflüchten hintergangen, weil das die einzige Art war, sie zum Reden zu bringen. Sie wollten ihre Aussagen auch nicht unterschreiben, geschweige denn ihre Namen geben. Ich hatte keine andere Wahl, als sie zu belügen. Die ersten Lügner freilich waren sie, nicht ich.

Timm: Aber ich denke, auch die Nerven, die Ruhe zu behalten, ein Gespräch zu führen mit einem Menschen, von dem Sie wissen, er hat diese Dinge getan und er tut so, als sei das nicht wahr, als wüsste er gar nichts! Und wie haben Sie das ausgehalten, auch nervlich?

Außergewöhnliches Treffen


Lanzmann: Ich denke, ein Mann wie Franz Suchomel zum Beispiel, der eine Schlüsselrolle in Treblinka hat und im Film "Shoah" vorkommt, er belügt mich nicht. Er sagt die Wahrheit, aber er lügt, wenn es um ihn geht. Als er mir erzählte, er habe nicht gewusst, wohin er gehe, das stimmte nicht. Er wusste das genau. Als ich ihn bitte, mir den Vernichtungs- und Tötungsprozess in Treblinka zu beschreiben, da lügt er überhaupt nicht! Das war ganz außergewöhnlich, als man das zum ersten Mal hörte.

Ich habe ihm gesagt, ich bin weder Richter noch Staatsanwalt, ich bin auch kein Nazijäger, ich will nur, dass Sie mir die Dinge erzählen! Ich habe ihm dann einen Stock gegeben, den ich aus einer Angelrute gebastelt hatte, die ich in Braunau am Inn, der Geburtstadt Hitlers gekauft hatte. Dort hatten wir uns nämlich getroffen, er hatte den Ort ausgesucht.
In dem Zimmer, wo ich ihn traf, hatte ich einen großen Plan vom Vernichtungslager Treblinka aufgehängt. Die Angelrute hatte ich abgesägt, um daraus einen Schulstock zu machen. Den habe ich Suchomel dann gegeben und habe ihm gesagt: Sie sind mein Lehrer und ich bin Ihr Schüler! Und er lügt nicht! Er lügt, wenn es um ihn selbst geht. Ich hatte ihm aber gesagt, Ihre persönliche Geschichte interessiert mich nicht.

Timm: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Claude Lanzmann, der auf der Berlinale für sein Lebenswerk geehrt wird. Monsieur Lanzmann, jetzt sieht eine neue, eine junge Generation Ihre Filme hier auf der Berlinale, auch zum ersten Mal. Hoffen Sie, dass sie sie anders sehen als vor 25 Jahren?

Lanzmann: Ich lege keinen Wert darauf, dass sie den Film heute anders sehen. Ich glaube, "Shoah" sieht man immer auf die gleiche Art und Weise. Ich war eben im großen Saal, es gab viele Zuschauer, von denen viele "Shoah" zum ersten Mal gesehen und sehr, sehr gut verstanden. "Shoah" ist ein Film für die Ewigkeit.

Timm: Aber heute gibt es eben kaum noch Zeitzeugen, und insofern ist der Film eigentlich heute viel mehr zukunftsorientiert und erzählt uns wie ein Denkmal von dieser Zeit, weil wir die Zeitzeugen, mit denen Sie noch sprechen konnten, oder auch die Opfer, die uns erzählen können, ja heute fast nicht mehr haben.

"'Shoah' ist ein Film über die Gaskammern"


Lanzmann: "Shoah" ist ein Film über die Gaskammern. "Shoah" ist kein Film über Überlebende. Es ist ein Film über die Toten. Die Toten sind bei mir. Niemand ist jemals aus einer Gaskammer zurückgekommen, um zu erzählen, wie es wirklich war. "Shoah" ist so nah dran, wie es überhaupt nur geht, und ich habe "Shoah" nie als Inkarnation verstanden.

Timm: Sie haben mal gesagt, niemand will in Auschwitz sein, aber alle wollen gesehen werden, wie sie in Auschwitz sind, und spielten damit auf das an, was wir so gern Gedenkkultur nennen. Wenn man diesen Film sieht, im Dunkeln, im Kino, wenn einem niemand dabei zuschaut, dann wird man ja auch als Zuschauer zurückgeworfen auf sich selbst. Erlebt jeder Zuschauer, der sich darauf einlässt, diesen Film "Shoah" auch als Denkmal?

Lanzmann: Wenn sich jemand die Zeit nimmt, diesen Film zu sehen, dann muss er das verarbeiten. Das ist etwas völlig anderes, als zu Gedenkfeiern nach Auschwitz zu gehen, um sich von Fernsehkameras ablichten zu lassen. Man sollte diese Dinge nicht vermengen.

Timm: Ihre Filme sind die leisesten und auch zugleich die lautesten über den Holocaust, die ich kenne. Sie haben kein Archivmaterial, keine Musik, alle Wirkung aus den Gesprächen mit Opfern, mit Zeugen und auch mit Tätern. Heute werden Sie dafür gepriesen, heute sieht man das Innovative dieser Filme. Haben Sie aber tatsächlich von Beginn an darauf vertraut, dass das genau die richtige Herangehensweise ist?

Lanzmann: Absolut. Der Film selbst ist Musik, eine Sinfonie. Im Film wird gesungen, aber es gibt keine Musik in dem Film. Der Film ist seine eigene Musik.

Timm: Claude Lanzmann, bei der Berlinale wird er in diesen Tagen mit dem Ehrenpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Alle seine Filme werden gezeigt, ich möchte auch noch auf seine "Erinnerungen" hinweisen: Die Autobiografie ist erschienen unter dem Titel "Der patagonische Hase" und lohnt sich unendlich.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mehr zum Thema