"Cinéma du Réel" - das wirkliche Kino

Von Siegfried Forster · 04.04.2011
In Paris ist das Dokumentarfilm-Festival "Cinéma du Réel" zu Ende gegangen. Es ist das größte Dokumentarfilm-Festival Frankreichs und eines der wichtigsten in Europa.
Auftakt für das "Cinéma du Réel" - das größte Dokumentarfilm-Festivals in Frankreich und eines der grössten in Europa. Aufregung und Beifall im Rathaus von Palermo. 18 obdachlos gewordene Familien besetzen den prunkvollen Sitzungssaal der sizilianischen Hauptstadt. Die Stadtväter wollen ihnen nicht mehr die Unterbringung im Hotel bezahlen.

"Palazzo delle Aquile" ist mit dem Großen Preis des Cinéma du Réel ausgezeichnet worden. Der Film schildert schonungslos die Sonntagsreden der Politiker und die Ohnmacht der Obdachlosen. Einen Monat lang erleben und erleiden wir Höhen und Tiefen der verzweifelten Besetzungsaktion. Die Stätte städtischer Demokratie wird zur Bühne bürgerlichen Protests.

Ein Dekor und eine Realität, die sich kein Spielfilmregisseur hätte besser ausdenken können. Stefano Savona ist einer der drei Filmemacher, die Tag und Nacht die Aktion gefilmt und in 52 Minuten dokumentiert haben:

"Das ist für mich ein Film über die Demokratie. Über die Beziehung zwischen Bürgern und Abgeordneten, über die Volksvertretung. Es ist sehr wichtig, dass das eben gerade kein sozialer, sondern ein politischer Film ist. Dieser Film erzählt den Umgang mit der Macht."

Mit dem Prix Louis Marcorelles ausgezeichnet wurde "Fragmente einer Revolution". Ein Mosaik-Film über den Widerstand nach den umstrittenen Wahlen 2009 im Iran, zusammengebastelt aus You-Tube-Videoschnipseln. Aus bewegten, aber isolierten Bildern entsteht ein neuer Film. Demonstranten rufen "Tod den Diktatoren", verschleierte Frauen verteilen Pflastersteine, die Kamera wackelt, die Bilder sind oft unscharf. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind wir genau im Bilde. Um am Leben zu bleiben, bleiben die iranischen Autoren anonym und verwandeln lieber die Zuschauer in Akteure. Raphaël Pillosio hat "Fragmente einer Revolution" produziert.

"Der Film zwingt uns, uns Fragen zu stellen, was wirklich in diesem Land passiert. Jeder Bürger hat heute eine Kamera zur Verfügung und kann Rechenschaft ablegen und Dinge erzählen. Der Film sagt, dass wir letztlich verantwortlich sind für das was geschieht, ob wir die Augen auf- oder zumachen, filmen oder nicht filmen."

Cinéma du Réel zeigt keine Wirklichkeit, sondern lässt sie den Zuschauer selbst einfangen. Was wir alle schon einmal gesehen, gelesen oder gehört haben, wird manchmal erst in einem Dokumentarfilm deutlich, erklärt Javier Packer y Comyn, der künstlerische Leiter des Festivals:

"Mit ihrem ununterbrochenen Bilderfluss lockt uns die Aktualität in eine Falle. Der Dokumentarfilm hält inne und verleiht dem Gezeigten eine Prägnanz, verdichtet die Bilder und verleiht ihnen eine Bedeutung. Damit entdecken wir Dinge, die wir in der Unmittelbarkeit der Aktualität nicht sehen können."

Durchblick und Distanz zur Aktualität beweist das Festival auch, wenn es ausgerechnet im Barack-Obama-Zeitalter den "Amerikanischen Traum" regelrecht auseinander nimmt. In "The Last Buffalo Hunt" bleibt Lee Anne Schmitt hartnäckig dem frei erfundenen Mythos selbsternannter Cowboys auf den Fersen. Cowboys, die sich bei der Bison-Jagd ihr "Streben nach Glück" erfüllen.

"«Das ist immer ein Mythos gewesen. Der Mythos Cowboy verkörpert das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Tatsächlich war das niemals wahr. Die Möglichkeiten waren immer begrenzt gewesen in der Wirklichkeit. »"

In "American Passages" seziert die Österreicherin Ruth Beckermann die amerikanische Gesellschaft, bis der Traum von der erfolgreichen Eroberung des Westens wie eine Seifenblase zerplatzt.

Bei "The Distinguished Flying Cross" sitzt Travis Wilkerson mit seinem Vater locker am Tisch und lässt diesen im Plauderton den Vietnam-Krieg erzählen und singen. Wie er sich als Hubschrauberpilot oftmals langweilte, betrunken durch die Gegend schoss, natürlich nichts dafür konnte, aber trotzdem das militärische Ehrenabzeichen bekam.

Für Festivalleiter Javier Packer y Comyn dokumentieren die Filme vor allem eines: die US-Gesellschaft beruht auf einem Dreiklang: Krieg – Vater – Sohn.

"«Vom Ersten Weltkrieg bis zum zweiten Irak-Krieg gab es in den meisten amerikanischen Familien diesen Vater-Sohn-Dialog: 'Warst Du im Krieg? Ziehst Du in den Krieg?' Es gibt die patriotische Seite, aber auch extrem tief gehende Verwundungen menschlicher Natur, die nur selten gezeigt werden, weil die patriotischen Filme weiterhin dominieren.""