Chronist gegen das Vergessen

Von Bernd Ulrich · 02.07.2010
Vor 100 Jahren wurde in Prag der Schriftsteller H.G. Adler geboren. Der Dichter geriet mit seiner Familie nach der Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates und der deutschen Besetzung des Landes in die Fänge des nationalsozialistischen Terrors. Nach dem Krieg legte er eine der ersten Analysen eines Konzentrationslagers vor.
Alles an diesem, am 2. Juli 1910 in Prag geborenen Dichter und Historiker atmet Geschichte und Geschichten. Kein Wunder, bei einem biografischen Hintergrund, den H.G. Adler so bilanzierte:

"Ich bin jüdischer Nationalität deutscher Muttersprache, stamme aus der Tschechoslowakei, gehöre dem österreichischen Kulturkreis an, bin ein deutscher Schriftsteller, ein englischer Staatsbürger – und hoffe in all dem zusammen ein bisschen noch ein Mensch zu sein."

Schon die über seinen Werken stehenden Kürzel seines Vornamens "Hans Günther" erzählen von einer entscheidenden Erfahrung im Leben des H.G. Adler. Denn sein Vorname bildete auch den vollen Namen des SS-Sturmbannführers Hans Günther, dem Vertreter Adolf Eichmanns im "Protektorat Böhmen und Mähren". Mit diesem Mörder mochte Adler nichts gemein haben – und schon gar nicht auch nur einen Teil seines Namens.

Es war eben jener SS-Scherge, der ihn und mit ihm seine erste Frau Gertrud Klepetar und deren Eltern deportieren ließ. Theresienstadt sollte zwischen Februar 1942 und Oktober 1944 für Adler und die seinen zum Leidensort werden. Es folgten Auschwitz, wo Gertrud und ihre Mutter sofort vergast wurden, und ein Nebenlager des KZ Buchenwald, in dem er im April 1945 die Befreiung erlebte. H.G. Adler:

"Es hat mich – obwohl ich rational schon in Theresienstadt gesehen habe, dass die allerwenigsten, wenn überhaupt einer, überleben würde – irgendwie habe ich immer den Glauben gehabt: Du überlebst es. Dieses 'Du' also bin ich. Und als ich es dann wirklich überlebt hatte, da empfand ich auf einmal das Gefühl einer ungeheuren Leere – mit doppelt 'e'. Und allmählich hat sich eben diese Leere dann doch wieder mit etwas gefüllt."

Dieses "Etwas" – das ist vor allem Adlers bahnbrechende, historisch, soziologisch und psychologisch inspirierte Studie über "Theresienstadt – Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft". Das Buch, zuerst 1955 erschienen, entwickelte sich rasch zu einem Standardwerk über die Anatomie eines Konzentrations- und Durchgangslagers. In der Analyse Adlers, so hat es der Rabbiner Leo Baeck, selbst Häftling in Theresienstadt, formuliert ...

" ... verbindet sich die menschliche Gabe, nahe zu bleiben, um sich hineinzudenken und mitzuempfinden, mit der geistigen Fähigkeit, zurückzutreten und die Distanz zu gewinnen, um der bestimmenden Linien und Formen des Ganzen gewahr zu werden."

Adler hat seine wissenschaftlichen Lageruntersuchungen später noch ergänzt, etwa 1958 um einen profunden Dokumentenband. All dies zu einer Zeit, da in Deutschland die Forschung noch weit entfernt von solchen Themen war. 1974 schließlich erschien "Der verwaltete Mensch – Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland", - ein monumentales Buch, das dem Diktum Max Webers folgt, nach dem sich "jede Herrschaft als Verwaltung äußert und funktioniert". Untersucht wird deren entscheidende Mitwirkung an der anti-jüdischen Gesetzgebung, den Ausweisungen und Vertreibungen und an der Vernichtung europäischer Juden. H.G. Adler über sich und die Bedeutung dieses Werkes:

"Er interessiert sich – und das geht wieder sehr zusammen mit seinem Buch 'Der verwaltete Mensch' – er interessiert sich außerordentlich für Verwaltung. Er hat versucht, in seinem verwalteten Menschen zu zeigen, dass es nicht nur auf eine Teilung der Gewalten ankommt, sondern dass auch die Gewalt als Gewalt überhaupt getrennt werden muss von der Verwaltung. Das hält Adler für seine wissenschaftlich größte Leistung."

Neben dieser "Leistung" dürfen Adlers Romane und Erzählungen, vor allem jedoch seine Lyrik nicht vergessen werden. Zitiert sei nur sein "Abendländischer Vorspruch", eine Art lyrisches Epitaph, das angesichts der Verbrechen um Schuld und Vergebung kreist:

"Lüstlinge der Demut sind Gesellen der Schuld,
Wenn sie auch Träume mischen, von keiner Ahnung verzehrt.
Wer einmal erst belehrt ist, wird zum Narren bereits
Einer bezifferten Unschuld; dies ist das Ende."


Als H.G. Adler am 21. August 1988 in London starb, war ein Großteil seines literarischen Ouvres unveröffentlicht geblieben – und immer noch ist einiges nicht erschienen.

Was er uns bis heute zu sagen hat, findet sich konzentriert in der letzten Strophe eines Gedichts, das ihm die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger widmete:
"Die genaue Ahnung,
das genaue Wissen,
Schutz und Zuflucht.
Die Helligkeit beim Eintritt macht gewiß:
Hier ist einer durch die Schwärze gegangen -
Und bleibt."