Chronist deutscher Geschichte

06.04.2009
Wie schon seine Romane "Völkerschlachtdenkmal" oder "Nikolaikirche" verweist auch Erich Loests neues Buch "Löwenstadt" auf die Stadt Leipzig. Im Mittelpunkt steht ein Mann mit einer multiplen Persönlichkeit. An ihm kann Loest Schicksale von Menschen verschiedener Generationen vom Ersten Weltkrieg bis über die Wende 1989 hinaus entwickeln.
Anfang der 1980er-Jahre wird ein Mann in die Psychiatrie eingeliefert, der das Völkerschlachtdenkmal in der Löwenstadt Leipzig mit einer Flakgranate in die Luft sprengen wollte. Fredi Linden, der vor seiner Einlieferung als Pförtner am Denkmal gearbeitet hat, macht einen verwirrten Eindruck. Seine Geschichte erzählt Erich Loest in dem Roman "Löwenstadt". In den Verhören gibt Fredi an, dass er von weit herkommt und nennt als seine Ahnen die Vornamen Carl Friedrich Fürchtegott Vojciech Felix Alfred.

Nicht ohne Grund hat Loest mit Fredi Linden eine multiple Persönlichkeit ausgewählt, denn der Sprengmeister, Jahrgang 1913, erzählt die Geschichte der letzten 200 Jahre aus der eigenen und aus der Perspektive seiner Vorfahren. Am Anfang steht der Lebensbericht von Carl Friedrich, der 1813 an der Völkerschlacht nahe Leipzig unter Napoleon teilnahm. Dass es für den kleinen Mann in den Kriegen nichts zu gewinnen gibt, weil sie immer auf der falschen Seite stehen, zeigt Loest an einer Ahnenreihe, deren Schicksale er über die historischen Zäsuren Erster und Zweiter Weltkrieg, Gründung der DDR bis zur Wende von 1989 und darüber hinaus verfolgt.

Fredi Linden ist in dem umfangreichen Figurenarsenal Loests kein Unbekannter. Bereits in dem 1984 erschienenen Roman "Völkerschlachtdenkmal" steht er im Zentrum der Handlung. In "Löwenstadt", der um sechs Kapitel erweiterten und insgesamt überarbeiteten Fortsetzung von "Völkerschlachtdenkmal", begegnet man ihm erneut. Das 1913 errichtete monumentale Denkmal ist der zentrale Ort in Loests Buch, auf den die einzelnen Geschichten zulaufen. Doch der gigantische Erinnerungsort, der so intensiv von Loest ins Bild gesetzt wird, bleibt ein stummer Zeuge. Indem Loest aber die Schicksale einfacher Leute aus dem abstrakten Geschichtsverlauf herausgreift und an den Einzelnen erinnert, wird der geschriebene Text zum wahrhaftigen Erinnerungsort. Die Gefallenen, für die das Denkmal errichtet wurde, finden in Fredi Linden jemanden, der sich für sie interessiert. Tote Soldaten aus verschiedenen Zeiten kommen als Untote in Loests Roman vor, wodurch der Raum des realen Handlungsgeschehens gesprengt wird.

Das erzählerische Verfahren ähnelt dem, das Fredi Linden anwendet, wenn er einzelne Schicksale aus dem Geschichtsverlauf heraussprengt und auf die Biografien seiner Vorfahren eingeht. Geschichte bleibt so alles andere als abstrakt, weil Loest ihr Gesichter zuordnet. Wer sind die vielen, die ihr Leben auf den Schlachtfeldern ließen, und an die sich heute niemand mehr im Einzelnen erinnern kann – diese Frage erweist sich in Loests Buch als erzählerische Herausforderung.

Loest wendet sich gegen die Versuche, Geschichte zu vergessen und sie zu verfälschen. Korrigierend greift er ein, wenn der Wahrheit genüge getan werden muss. Insbesondere die neu hinzugefügten Kapitel, die sich mit der Zeit um und nach 1989 befassen, räumen mit Legendenbildungen auf. Erich Loest, der am 16. Juni 2009 zusammen mit Monika Maron und Uwe Tellkamp den Deutschen Nationalpreis erhält, erweist sich wie schon in "Nikolaikirche" als ein der Wahrheit verpflichteter Romancier und als unbestechlicher Chronist der deutschen Geschichte.

Rezensiert von Michael Opitz

Erich Loest, Löwenstadt, Roman
Steidl Verlag, Göttingen 2009
343 Seiten, 20 Euro.