Christopher Kemp: "Die verlorenen Arten"

Biologische Expedition in die Museumskeller

Christopher Kemp, "Die verlorenen Arten"
Christopher Kemp begibt sich in seinem Buch auf eine faszinierende Suche nach den "Verlorenen Arten". © Antje Kunstmann Verlag/picture alliance/imageBROKER/Norbert Michalke/Montage: DLF Kultur
Von Johannes Kaiser · 13.02.2019
Naturkundemuseen präsentieren oft nur ein Bruchteil dessen, was in ihren Gewölben und Schubladen lagert. Christopher Kemp hat für "Verlorene Arten" Museen in aller Welt besucht und Geschichten über die biologische Vielfalt zusammengetragen.
Eine seltsame Vorstellung: Ein Orchester spielt von einer Beethoven-Symphonie nur jede fünfte Note. Unvorstellbar - und doch passiert Vergleichbares in der Naturkunde. Wir haben, so der amerikanische Autor und Epidemiologie Christopher Kemp, von den geschätzt zwölf Millionen biologischer Arten nicht einmal zwei Millionen erkannt und benannt. Wir kennen also nur einen Bruchteil der Symphonie der Natur.
Das liegt nicht nur daran, dass die Erforschung der Natur ihren tatsächlichen Reichtum noch lange nicht erschlossen hat. Es ist auch ein Versäumnis der naturhistorischen Museen. Man sollte meinen, sie wüssten, was für Schätze in ihren Archiven lagern. Weit gefehlt.
In den Sammlungen verbergen sich wahre Reichtümer biologischer Vielfalt und eine Welt unbekannter Pflanzen und Tierarten. Ihr Problem: Es gibt immer weniger fachkundiges Personal. "Man stelle sich eine Bibliothek voller seltener, wichtiger Bücher vor", so Kemp, "um die sich kein Bibliothekar mehr kümmert."

Schätze in Kellergewölben und Schubladen

Das klingt erst einmal merkwürdig. Was kann man schon in verstaubten Kellergewölben und zahllosen Schubladen finden, außer alten Skeletten und in Alkohol eingelegten Tierleichen? Eine ganze neue Welt – davon ist Christopher Kemp überzeugt.
In den Archiven schlummert jede Menge Wissen über Ökosysteme. Hier finden sich Verwandte und Artgenossen vieler Spezies, die in freier Natur entdeckt wurden. Sie können Aufschluss über den evolutionären Prozess der Artenentwicklung geben.
Ökologen erhalten Einblicke in komplizierte Ökosysteme und deren Bausteine, Verbindungsstücke. Naturschützer verstehen, was in freier Natur bereits fehlt und was erhalten werden muss. Die Archive werfen zudem viele Fragen auf: Warum ist eine einstmals häufig vorkommende Art plötzlich selten geworden? Was war ihre Funktion, was fehlt jetzt im Ökosystem?

Schillernde Forscher-Figuren

Christopher Kemp hat naturkundliche Museen rund um die Welt besucht, mit Mitarbeitern, Taxonomen und Feldforschern gesprochen. Er ist ein Geschichtenerzähler, der uns die Entdeckung seltener Affenarten nicht weniger begeistert präsentiert als die ekliger Fadenwürmer.
Bisweilen ist die Lektüre ein bisschen ermüdend, weil das Grundphänomen im Prinzip immer dasselbe ist: Taxonomen entdecken bislang unbekannte Arten. Kemp lockt dann mit Geschichten über Sammler und Entdecker.
So erfahren wir zum Beispiel von der englischen Naturforscherin Mary Kingsley, einer Autodidaktin, denn Mitte des 19. Jahrhunderts galt in England Bildung für Frauen als unziemlich. Sie reiste nach Westafrika, obwohl man ihr dringend abriet. Schifffahrts-Agenten verkauften nur die Hinfahrt, weil keiner lebend zurückkam.
Kingsley sammelte dort bei mehreren Expeditionen zahllose Fische, Reptilien, Insekten und Gräser. So nimmt uns der Autor mit auf eine Entdeckungsreise durch die Archive und die Geschichte ihrer Sammlungen. Zudem erklärt er gut verständlich neue Methoden zur Bestimmung von Arten wie die DNA Analyse.
Das Buch zeigt, wie bedeutsam und wichtig die naturkundlichen Museen für unser Verständnis vom Leben auf der Erde sind. Eine überfällige Ehrenrettung und Liebeserklärung für die fantastischen Sammlungen und ihre Hüter.

Christopher Kemp: "Die verlorenen Arten. Große Expeditionen in die Sammlungen naturkundlicher Museen"
Aus dem amerikanischen Englisch von Sebastian Vogel.
Verlag Antje Kunstmann, München 2019
288 Seiten, 25,- Euro

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