Christoph von Marschall über Nationalhymnen-Debatte

"Ein Problem, das wir eigentlich nicht haben"

04:52 Minuten
Ein deutscher Fußball-Fan singt am 16.06.2016 beim Public Viewing auf dem Messegelände in Freiburg (Baden-Württemberg) im Regen vor der EM-Begegnung Deutschland - Polen die deutsche Nationalhymne.
An was denken Deutsche, wenn ihre Nationalhymne erklingt? Diese Frau denkt vermutlich an möglichst viele Tore der deutschen Nationalmannschaft, die sie während eines EM-Spiels anfeuert. © picture alliance/dpa - Patrick Seeger
Christoph von Marschall im Gespräch mit Anke Schaefer · 09.05.2019
Audio herunterladen
Bodo Ramelow tut sich schwer mit dem Text des "Deutschlandlieds". Der Linken-Politiker sagt, er müsse dabei an Nazi-Aufmärsche denken. Journalist Christoph von Marschall hält das für Unsinn: Wer könne etwas gegen "Einigkeit und Recht und Freiheit" haben?
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hätte gerne eine neue Nationalhymne. Zumindest einen anderen Text solle sie bekommen – einen, mit dem sowohl West- als auch Ostdeutsche etwas anfangen könnten.
Höre er die jetzige Hymne – die dritte Strophe des Liedtextes von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn – müsse er unweigerlich an Aufmärsche der Nationalsozialisten denken, sagt Ramelow.

"Der Großteil der Welt denkt sicher nicht an Nazis"

Das Argument kann unser Studiogast Christoph von Marschall, "Tagesspiegel"-Redakteur und diplomatische Korrespondent des Blattes, nicht nachvollziehen: "Ich würde das eher einsortieren unter Probleme, die wir eigentlich nicht haben und die man auch nicht sehr lange und breit wälzen muss."
Wer könne ernsthaft etwas gegen die Beschwörung von "Einigkeit und Recht und Freiheit" einwenden? "Ich glaube nicht, dass der Großteil der Welt, wenn er diese Hymne hört, an Nazi-Deutschland denkt", sagt von Marschall. Er sei davon überzeugt, dass auch die meisten Deutschen diese Assoziation nicht hätten. "Ich finde das alles nicht so wahnsinnig besorgniserregend."

Auf beide Melodien singbar

Und was den Aspekt "Ost und West" anbelange: "Es ist doch ein erstaunlicher Zufall, dass die Hymne der DDR von Johannes R. Becher und die deutsche Hymne ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘ genau das gleiche Textmaß haben. Sie können ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘ auf die Melodie des Becher-Liedes singen. Sie können aber auch ‚Auferstanden aus Ruinen‘ auf die Haydn-Melodie singen. Das passt im Maß ganz genau. Also, wer Probleme hat, sich das eine oder andere anzueignen, hat ja dann gewisse Wahlmöglichkeiten."
Christoph von Marschall, Redakteur beim Berliner "Tagesspiegel"
Christoph von Marschall, Redakteur beim Berliner "Tagesspiegel".© picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB
Und wie sieht von Marschall den Vorschlag, den jetzigen Text gegen die "Kinderhymne" von Bertolt Brecht auszutauschen? "Mein erster Reflex heute ist: Es ist darin doch genau die gleiche Botschaft wie die dritte Strophe des ‚Deutschlandliedes‘: ‚Dass ein gutes Deutschland blühe, dass die anderen Völker nicht erbleichen‘ – das ist doch genau dasselbe wie ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘", meint der Journalist.
(mkn)

Christoph von Marschall, geboren 1959 in Freiburg, studierte Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaften. Seit 1991 ist er Redakteur beim Tagesspiegel, war Leiter der Meinungsredaktion, Washington-Korrespondent und arbeitet heute als diplomatischer Korrespondent. Als erster Helmut-Schmidt-Stipendiat der Zeit-Stiftung und des German Marshall-Funds war er 2017/18 einige Monate in den USA, um sein jüngstes Buch "Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden" zu schreiben.

Die gesamte Sendung hören Sie hier:
Audio Player
Mehr zum Thema