Christoph Dieckmann: Rückwärts immer
Ein Buch über Wunden und Verletzungen legt Christoph Dieckmann vor - aber keines, das von deutscher Schwermut oder gar ostdeutscher Nostalgie oder Entschuldigungsabsicht kündet. "Rückwärts immer" ist ein Plädoyer für das Erinnern.
Sechzehn Geschichten erzählt der Reporter, die meisten davon hat die "Zeit" publiziert. Die erste, ausführlichste und persönlichste Collage von Erinnerungen hat Dieckmann eigens für diesen Band verfasst. Uneitel, aber doch seiner Sache gewiss, teilt uns der 1956 geborene Autor Episoden aus seiner eigenen Vita mit. Wir erfahren, was ihn, den Pastorensohn aus dem Ostharz prägte.
Da sind die Kriegserlebnisse des Vaters, der - nicht untypisch für seine Generation - sich nach dem Weltkrieg zu einem späten Theologiestudium entschloss und seinen Söhnen vom Krieg erzählt, das fünfte Gebot erklärt, den Tyrannenmord nicht verdammen mag, aber doch ganz froh ist, das Hitler sich selbst den Garaus machte. Hier erzählt Dieckmann bewusst parallel zu Wibke Bruhns’ Annäherung an ihren Vater, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet wurde und dessen Geschichte wie Dieckmanns in Teilen auch in Halberstadt spielt. Wibke Bruhns empört die anfängliche NS-Begeisterung des Vaters und ständig fällt sie Urteile über die Geschichte des anderen.
Dieckmann ist viel großzügiger - er respektiert die Menschen, die er beschreibt oder zitiert. Und er lässt die Erinnerung als aktives Handeln zu - ohne zu entschuldigen!
Luther in der DDR nimmt in seiner Geschichte viel Platz ein, nach Fernweh klingende Bezüge zu amerikanischem Blues und Folk, aber auch die Erörterung der legendären Fußballereignisse von Bern 1954 oder das Länderspiel 1965, das die DDR gegen Ungarn bestritt und verlor.
Warum beschreibt Dieckmann sorgsam die treudeutschen Hinterlassenschaften seines Onkels, Kneipengespräche mit einem namenlosen Existentialisten oder die Buchvorstellung, da er Michail Gorbatschow den zu signierenden Band versehentlich (und weil angetrunken) statt auf den Signiertisch auf den Schädel fallen ließ? Nicht etwa, weil wir eine spaßige Erklärung für das bekannte Mal auf des Generalsekretärs Schädel bräuchten. Nein, weil die reflektierte Erinnerung Menschen, ihre Identität und die Zeitläufe erklärt.
Ein Beispiel: Eine wahrhaft grandiose, auch skurrile Szene aus dem vorletzten Jahr des alten Ost-Berlin: sie trug sich zu bei einer der Internationalen Friedensfahrten, den Radrennen des Ostens schlechthin. Dieckmann - allein mit seiner Kamera - ignoriert kurz vor dem Eintreffen der Radfahrer die Absperrung an der Tribüne des Politbüros, stellt sich vor die tatenlos und müßig herumstehenden SED-Genossen, "winkt solidarisch" empor und huldvoll wird dem jungen, langhaarigen Bürger, der mitten auf der abgesperrten Rennstrecke knipsen will, mit künstlichen Nelken zurück gewunken. Selbstredend schreitet ein Volkspolizist ein, lässt aber Gnade walten.
Eine schöne Geschichte, weil Dieckmann die Agonie der Mächtigen entlarvt, ihre Blindheit zu einer Zeit, als die DDR längst in ihrem Bestand erschüttert war und nicht zuletzt auch Gefahr in der Luft lang. Ironisiert wird in dieser kleinen Farce auch sein eigenes Tun. Dieckmann zeigt, was erst viel später charakteristisch für die Wendezeit erschien: ein Lebensgefühl des "Alles ist möglich".
So ein Schabernack ist nicht etwa das Gegenteil von seriöser Diktaturbeschreibung, sondern gehört zum individuellen Erleben dazu. Und das ist die große Qualität der Dieckmannschen Erzählungen: Wenn von der Sprengung der Paulinerkirche, der Leipziger Universitätskirche, berichtet wird, scheinen in der historischen Beschreibung viele Einzelerlebnisse auf. Schmerzlich sind sie manchmal, die Rückblicke, auch sei jedem das Recht zur Verklärung zugestanden - die respektvoll zusammengeführten Erinnerungen ergeben schließlich ein Bild der Vergangenheit in einer höchst gegenwärtigen Farbe.
Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, sagt der Abonnent, der seiner täglichen Zeitungslawinen nicht mehr Herr wird. Christoph Dieckmann belegt mit seiner Auswahl von Artikeln aus der "Zeit" das Gegenteil: Die ausgewählten Arbeiten - überwiegend aus den Jahren 2004 und 2003 - haben keine Patina angesetzt.
Christoph Dieckmann: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern. Erzählungen und Reportagen.
Christoph Links Verlag Berlin
März 2005
272 Seiten, 27 Fotos
17,90 Euro
Da sind die Kriegserlebnisse des Vaters, der - nicht untypisch für seine Generation - sich nach dem Weltkrieg zu einem späten Theologiestudium entschloss und seinen Söhnen vom Krieg erzählt, das fünfte Gebot erklärt, den Tyrannenmord nicht verdammen mag, aber doch ganz froh ist, das Hitler sich selbst den Garaus machte. Hier erzählt Dieckmann bewusst parallel zu Wibke Bruhns’ Annäherung an ihren Vater, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet wurde und dessen Geschichte wie Dieckmanns in Teilen auch in Halberstadt spielt. Wibke Bruhns empört die anfängliche NS-Begeisterung des Vaters und ständig fällt sie Urteile über die Geschichte des anderen.
Dieckmann ist viel großzügiger - er respektiert die Menschen, die er beschreibt oder zitiert. Und er lässt die Erinnerung als aktives Handeln zu - ohne zu entschuldigen!
Luther in der DDR nimmt in seiner Geschichte viel Platz ein, nach Fernweh klingende Bezüge zu amerikanischem Blues und Folk, aber auch die Erörterung der legendären Fußballereignisse von Bern 1954 oder das Länderspiel 1965, das die DDR gegen Ungarn bestritt und verlor.
Warum beschreibt Dieckmann sorgsam die treudeutschen Hinterlassenschaften seines Onkels, Kneipengespräche mit einem namenlosen Existentialisten oder die Buchvorstellung, da er Michail Gorbatschow den zu signierenden Band versehentlich (und weil angetrunken) statt auf den Signiertisch auf den Schädel fallen ließ? Nicht etwa, weil wir eine spaßige Erklärung für das bekannte Mal auf des Generalsekretärs Schädel bräuchten. Nein, weil die reflektierte Erinnerung Menschen, ihre Identität und die Zeitläufe erklärt.
Ein Beispiel: Eine wahrhaft grandiose, auch skurrile Szene aus dem vorletzten Jahr des alten Ost-Berlin: sie trug sich zu bei einer der Internationalen Friedensfahrten, den Radrennen des Ostens schlechthin. Dieckmann - allein mit seiner Kamera - ignoriert kurz vor dem Eintreffen der Radfahrer die Absperrung an der Tribüne des Politbüros, stellt sich vor die tatenlos und müßig herumstehenden SED-Genossen, "winkt solidarisch" empor und huldvoll wird dem jungen, langhaarigen Bürger, der mitten auf der abgesperrten Rennstrecke knipsen will, mit künstlichen Nelken zurück gewunken. Selbstredend schreitet ein Volkspolizist ein, lässt aber Gnade walten.
Eine schöne Geschichte, weil Dieckmann die Agonie der Mächtigen entlarvt, ihre Blindheit zu einer Zeit, als die DDR längst in ihrem Bestand erschüttert war und nicht zuletzt auch Gefahr in der Luft lang. Ironisiert wird in dieser kleinen Farce auch sein eigenes Tun. Dieckmann zeigt, was erst viel später charakteristisch für die Wendezeit erschien: ein Lebensgefühl des "Alles ist möglich".
So ein Schabernack ist nicht etwa das Gegenteil von seriöser Diktaturbeschreibung, sondern gehört zum individuellen Erleben dazu. Und das ist die große Qualität der Dieckmannschen Erzählungen: Wenn von der Sprengung der Paulinerkirche, der Leipziger Universitätskirche, berichtet wird, scheinen in der historischen Beschreibung viele Einzelerlebnisse auf. Schmerzlich sind sie manchmal, die Rückblicke, auch sei jedem das Recht zur Verklärung zugestanden - die respektvoll zusammengeführten Erinnerungen ergeben schließlich ein Bild der Vergangenheit in einer höchst gegenwärtigen Farbe.
Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, sagt der Abonnent, der seiner täglichen Zeitungslawinen nicht mehr Herr wird. Christoph Dieckmann belegt mit seiner Auswahl von Artikeln aus der "Zeit" das Gegenteil: Die ausgewählten Arbeiten - überwiegend aus den Jahren 2004 und 2003 - haben keine Patina angesetzt.
Christoph Dieckmann: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern. Erzählungen und Reportagen.
Christoph Links Verlag Berlin
März 2005
272 Seiten, 27 Fotos
17,90 Euro