Christlicher Pazifismus

Von den Gräueln in der Ukraine überrollt

07:52 Minuten
Ukrainerinnen und ihre Kinder demonstrieren beim Katholikentag in Stuttgart und fordern unter anderem Waffenlieferungen von Deutschland.
Frauen und Kinder halten blau-gelbe Fahnen und Plakate, mit denen deutsche Unterstützung für die Ukraine gefordert wird. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Von Burkhard Schäfers · 29.05.2022
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"Russia is killing our kids" steht auf einem Plakat von Ukrainerinnen: Der Katholikentag ist direkt konfrontiert mit Putins Angriffskrieg. Er hat die christliche Friedensbewegung unerwartet getroffen und ihre Überzeugungen ins Wanken gebracht.
Singen und beten für den Frieden, das gehört seit Langem zu Katholikentagen. Nicht zuletzt zur Selbstvergewisserung der Beteiligten, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Aber welche ist aus christlicher Perspektive die richtige Seite, wenn die Ukraine schwere Waffen fordert, um sich gegen den Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verteidigen?
Zunächst einmal ist natürlich das Mitgefühl mit den Geflüchteten groß, von denen einige in Stuttgart dabei sind. Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ist bei der Friedenskundgebung des Katholikentags hörbar berührt:
"Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, seien Sie gewiss, wir teilen Ihre Trauer über die vielen Toten und Verwundeten. Wir teilen die Verzweiflung über die Ungerechtigkeit dieses Krieges, den Ihnen Russland aufgezwungen hat."

Auf zivile Friedensarbeit vertrauen

Wie viele andere in Stuttgart tastet Irme Stetter-Karp angesichts des Ukraine-Kriegs nach Antworten, nach einer Orientierungshilfe aus christlicher Perspektive: "Die Verteidigung dient der Wiederherstellung des Friedens. Um die Verhältnismäßigkeit der Mittel ringen die Verantwortlichen jeden Tag. Zivile Friedensarbeit spielt dabei eine größere Rolle als wir es in Zeiten, in denen Waffen sprechen, erahnen. Auf diese zivile Friedensarbeit müssen wir Christinnen und Christen weiter unser Vertrauen setzen.“
Zivile vor militärischen Mitteln: Das gilt seit Langem als Maxime des christlichen Pazifismus. So kritisierte Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika "Fratelli tutti" vor eineinhalb Jahren Tendenzen der Politik, militärische Auseinandersetzungen mit einer gewissen Leichtfertigkeit zu legitimieren: Krieg könne nicht als Lösung betrachtet werden.
Aber was heißt das angesichts von Erlebnissen wie denen einer ukrainischen Mutter, die mit ihrer Tochter gerade aus Butscha geflohen ist und auf der Katholikentagsbühne davon erzählt – mithilfe einer Übersetzerin.
"Sie hat ihre Tochter, die Sofie, die hier mit sitzt, verhüllt in Tücher und Kleidung, sodass die russischen Soldaten nicht erkennen können, dass das ein junges Mädchen ist, damit sie ihr nichts antun. Die haben beim Fliehen nur gebettelt, dass die denen nicht in den Rücken schießen.“

Ins pazifistische Herz getroffen

Die christliche Friedensbewegung wurde von den Gräueln in der Ukraine überrollt. Die Ratlosigkeit wird deutlich in Stuttgart. Gerold König, der Bundesvorsitzende der Katholischen Friedensbewegung Pax Christi, sagt: "Wir haben die Antworten nicht. Dieser Angriffskrieg hat uns als Pax Christi-Bewegung in das pazifistische Herz getroffen, mittenrein."
Er fordert eine Waffenruhe, um der Diplomatie eine Chance zu geben. Dabei sei auch der Papst als Vermittler gefragt. Eine massive Aufrüstung der Ukraine lehnt Pax Christi klar ab:
"Schwere Waffen sind nicht die Lösung. Hinter jeder Waffe steht ein Mensch, und vor jedem Kanonenrohr stehen ganz viele Menschen. Das sind Visionen, Träume, Hoffnungen, die mit einem Schlag vernichtet werden, und das darf nicht sein."
Der Ruf nach immer mehr Waffen werde ihm in Deutschland zu laut, sagt der Pax Christi-Mann König: Es greife eine Kriegsrhetorik um sich. Was also ist aus Sicht der Friedensbewegung zu tun?
"Wir müssen jetzt im Krieg den Frieden vorbereiten. Wir müssen in Politik und Kirche wirken. Dass sich Russen und Ukrainer auf Augenhöhe und auf Herzenshöhe begegnen können. Dabei helfen Waffen überhaupt nicht."

Ohne militärischen Schutz geht es nicht

Kirchliche Gruppen sind eine Säule der Friedensbewegung. Sie setzen sich ein für Abrüstung, gegen Rüstungsexporte, für Konfliktprävention. Und stehen plötzlich in der Spannung, dass ihre Forderungen von der Wirklichkeit überrollt werden.
Auf einem ökumenisch besetzten Podium stellte der evangelische württembergische Landesbischof Otfried July daher die Frage: "Müssen wir auch als Kirchen unsere in Jahren mühsam errungenen friedensethischen Positionen jetzt, wo wir alle fassungslos sind, noch einmal neu und wie überdenken?"
Landesbischof July stellt die Frage in einen größeren Zusammenhang und erinnert daran, dass Krieg und Gewalt in anderen Weltgegenden seit Langem schrecklicher Alltag seien. Seine Schlussfolgerung: Ohne militärischen Schutz geht es nicht. Er sei kein Radikalpazifist, sagt der evangelische Bischof und berichtet von seinen Reisen nach Afrika.
"Ich bin über diese Reitermilizen hinweggeflogen, die damals die Frauen überfallen haben im Nordsudan. Da habe ich fast darum gebetet, dass ein Blauhelm-Einsatz auch mit dem Einsatz von Waffen möglich ist. Oder ich war vor zwei Jahren im Boko Haram-Gebiet, wo vorher eine Kirche gestürmt wurde. Da war ich unter Militärschutz. Wenn ich das akzeptiere, bin ich kein Radikalpazifist mehr."
Dann ist da noch die Frage: Sind Sicherheit und Frieden das Gleiche? Grundsätzlich sei es ein Trugschluss zu glauben, mehr Geld für Verteidigung bedeute mehr Sicherheit, sagt eine Vertreterin der ökumenischen Aktion Ohne Rüstung leben. Der politische Fokus müsse viel stärker darauf liegen, Gewalt vorzubeugen.

Unschuldige mit Waffengewalt schützen

Derweil steht Juliana Haberlag im Tarnfleck am Stand der Gemeinschaft Katholischer Soldaten auf der Kirchenmeile. Sie sagt: "Natürlich wäre es der Wunsch von jedem, dass man das Ganze ohne Waffen regelt. Das geht uns Soldaten nicht anders. Aber so wie Russland sich verhalten hat, ist es halt auch geboten, dass man einschreitet. Und wenn das im Fall der Ukraine mit Waffengewalt ist, dann müssen wir zu diesem Mittel greifen, um die Unschuldigen zu schützen, die für diesen Konflikt nichts können."
Haberlag ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Gemeinschaft Katholischer Soldaten. Die Vereinigung argumentiert, Frieden bedeute mehr als die Abwesenheit von Krieg, sondern Menschen müssten sich in Würde entfalten können, soziale Gerechtigkeit müsse gefördert werden. Deshalb ist die Katholikin Juliana Haberlag Soldatin geworden.
"Als Christin stehe ich für andere ein. Der Soldatenberuf gibt mir die Möglichkeit, mit ganz anderen Mitteln dem Nächsten zu helfen, und ist, finde ich, ein sehr tiefer christlicher Hintergrund im Endeffekt."
Die christliche Sicht führt zu unterschiedlichen Schlüssen. Bei allem Schrecken gehe es indes auch darum, den Menschen durch den Katholikentag Hoffnung zu vermitteln, sagt Gerold König von Pax Christi.
Zumindest dabei helfe auch Singen und Beten, sagt Juliana Haberlag. "Ich glaube, dass Gebete und Lieder Singen einfach die Sicherheit geben: Ich bin nicht alleine mit meinen Nöten. Unsere Lieder werden gehört, und die, die Verantwortung tragen, wissen, dass wir was anderes wollen."

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