Christlich-jüdische "Amour fou"

21.08.2009
Ulrike Kolb erzählt in ihrem neuen Roman "Yoram" eine der ältesten Geschichten der Menschheit: Girl meets boy. Es ist zugleich eine recht neue Geschichte: Girl und boy sind Deutsche - Carla Leonhard christlich und Yoram Schemesch jüdisch.
Ihre Liebe steht im Schatten des Holocaust, doch Ulrike Kolb umgeht die zahlreich bereit liegenden Fallstricke souverän. Sie erzählt in oft leuchtenden, sinnlich aufgeladenen Erinnerungsszenen mit nur wenigen Vor- und Rückgriffen, meist nah am Geschehen von einer "Amour fou", die immer wieder behaupten muss, Normalität zu sein.

Irgendwann in den 70er-Jahren lernt Carla - eine nach dem Erlebnis von 1968 antiautoritär gestimmte Ausbilderin von Kindergärtnerinnen - in Israel Yoram kennen. Seine Eltern Robert und Aliza Schemesch haben die Nazijahre in Palästina überlebt, während ihre Familien in Deutschland umgebracht wurden.

Als Yorams Eltern nach dem Krieg dennoch nach Frankfurt am Main zogen, wo der Vater als Anwalt Überlebende des Holocaust vertrat, hielten sie viele Israelis für Verräter. Auch Yoram - ein Architekt - ist hin- und hergerissen zwischen Israel und Deutschland. Als Carla jedoch mit Vered schwanger ist, ziehen sie gemeinsam nach Frankfurt am Main.

Dort entfremdet sich Carla zunehmend ihrer Umgebung. Denn beste Freunde erzählen Anekdoten von einem Verwandten und dem Kommandanten von Auschwitz - schließlich sei auch damals manches schön gewesen. Selbst Carlas Mutter überdenkt erst nach der Geburt ihrer Enkelin das stets nachgeplapperte "Die Juden sind an allem schuld". Kolb erzählt vom alltäglichen Antisemitismus, auf den Yoram meist gelassen reagiert.

Die 68er sind für Carla mit der Theorie dem "eigenen Vater-Mutter-Gefühl" ausgewichen. Nun beharrt sie auf diesen Nähegefühlen: Die Liebesgeschichte mit so diskretem wie häufigem Sex wird zunehmend zur Familiengeschichte. Carla kritisiert ihre Mutter, bleibt ihr aber nahe, und sie zeichnet ein bewegendes Porträt der von Ängsten vor Deutschen gepeinigten Stiefmutter Aliza.

Am Ende zweifelt Carla, ob ihr geliebter Vater nicht doch in Auschwitz arbeitete. Sie besucht das KZ, bricht danach zusammen – auch, weil Yoram offenbar eine Geliebte hat - und wird in eine Klinik eingeliefert.

Dass zu den historischen Ungeheuerlichkeiten, die hinreichen, jede deutsch-jüdische Liebe zu zerstören, auch noch die familiären hinzutreten müssen, wirkt in erzählerischer Hinsicht ein wenig üppig. Schade, denn zuvor hatte Kolb zwar Yoram allzu sehr als Lichtgestalt gezeichnet, ansonsten aber in ihrem menschenfreundlichen Roman, der die bundesrepublikanische Vergangenheitsbewältigung fortschreibt, souverän die üblichen Fallstricke vermieden: neben dem Philosemitismus die Klischees von der jüdischen Mamme, der Schuld zerfressenen Political-Correctness-Linken sowie den allzeit geistreichen Söhnen und Töchtern der Überlebenden.

Dennoch ist das Ende aufschlussreich in geschichtspolitischer Hinsicht: Nun steht auch die Erzählerin als Opfer derselben Elterngeneration da – die Nachkommen der Täter ziehen mit denen der Opfer gleich. Ulrike Kolb lässt den Roman mit einem Epilog enden, der von Yorams und Carlas Tochter Vered erzählt wird. Die nächste Generation übernimmt den Stab: Neues Spiel, neues Glück?

Besprochen von Jörg Plath

Ulrike Kolb: Yoram
Wallstein Verlag, Göttingen 2009
298 Seiten, 19,90 Euro