Christine kann nicht anders

Von Natascha Pflaumbaum · 13.01.2011
Stephan Kimmig hat für das Schauspiel Frankfurt Arthur Schnitzlers "Liebelei" produziert. Schnitzler verhandelt hier verschiedene Spielarten der Liebe, zugleich gibt er tiefenpsychologische Einblicke in die Seele eines ganzen Milieus.
Christine liebt – anscheinend den ersten Mann in ihrem Leben. Und sie liebt mit Haut und Haaren, sie ist besessen von dem Gefühl, süchtig nach dem Mann, der ihre Liebe nicht erwidert. Und so wird aus der Sucht nach Liebe eine Sucht nach Qual.

Es dauert lange Momente, bis Kathleen Morgeneyer, die die Rolle der Christine spielt, wieder bei uns ankommt. Ende der Vorstellung - der Applaus schwappt über die Bühne, aber sie ist immer noch nicht da: aufgelöst, ein Wrack, verloren, tränenerfüllt, gekrümmt vor Schmerz. Kathleen Morgeneyer hat sich bis zu diesem Zeitpunkt maßlos verausgabt: maßlos. Sie hat das Leid der Christine auf der Bühne nicht nur vorgeführt, sie hat es selbst durchlebt. Wer sich bis dahin getraut hat, ihr im Gefühl zu folgen, kann die eigenen Tränen kaum unterdrücken. Weil Kimmig diese Christine wie ein groß gewordenes Kindergartenmädchen im roten Volantminirock und beige-farbenem Anorak über die Bühne staksen lässt, weil er ihr eine monotone Stimme ohne jede Modulation gibt, weil er sie wimmern und winseln lässt, fällt es einem allerdings auch nicht schwer, diese Christine abzulehnen. Sie macht sich ja auch lächerlich. Nur: Sie kann nicht anders.

Die Figur der Christine ist von Arthur Schnitzler als eine jener Personen gezeichnet, die einen Mann um seinen Status willen liebt, die sich ihm ergibt, uneingeschränkt, die sich aufgibt, weil sie sich in den Kopf gesetzt hat, Frau dieses bestimmten Mannes sein zu wollen. Dieser bestimmte Mann ist Fritz (Isaak Dentler). Fritz ist allerdings ebenfalls bereits "belegt" mit derselben Obsession: Er hat sich in den Kopf gesetzt, der Mann einer bereits verheirateten Frau sein zu wollen. Darum geht es dem Regisseur Stephan Kimmig in seiner Frankfurter Inszenierung: um die Liebe, die sich einer in den Kopf setzt.

Christine glaubt Fritz zu lieben, Fritz glaubt diese Ehefrau zu lieben, für die er am Ende im Duell stirbt. Aber was ist das für eine Liebe? Masochismus, Sadismus, eine Obsession, eine bloße Phantasmagorie. Es liegt im Wesen der Liebe, dass sie uns etwas vortäuscht, darum sind gelegentliche Interventionen des Verstandes in Liebesdingen bitter nötig. Hier fehlen sie.

Stephan Kimmig hat Schnitzlers großbürgerliches Spiel in ein modernes Apartment von heute verlegt: Plexiglasboden, Plexiglasrückwand mit Tapetenfetzen bestückt, ein weißer Plastikstuhl, ein weißer Kühlschrank, Waschbecken, Klo, ein Tisch. Alles da. Fritz, Theodor (Sascha Nathan), Christine und Mizi (Franziska Junge) treffen sich nicht – wie von Schnitzler vorgesehen - zum Abendessen, sondern auf einer Party. Sie "feiern" unter Stroboskopgewitter mit Sekt und Rotwein, besudeln sich, singen Karaoke: "I will survive" von Gloria Gaynor. Man lernt diese vier Leute kennen: die lässige Mizi, den vernünftigen Theodor, den Bonvivant Fritz und eben Christine, die hier völlig aus dem Rahmen fällt: die hölzerne Christine. Warum sie überhaupt zu dieser Clique gehört, ist rätselhaft. Vielleicht weil sie einfach lieb ist, zu lieb, masochistisch lieb. Solche Leute stören selten.

Hier nun zieht sie alle Aufmerksamkeit auf sich: denn die Art, wie Christine liebt, ist krank. Christine will Fritz kontrollieren, will alles von ihm wissen, überschreitet körperlich und geistig Grenzen. Sie verwechselt Liebe mit Symbiose, will ständig bei ihm andocken: körperlich, wenn er da ist, geistig in seiner Abwesenheit. Sie kann einfach nicht getrennt sein von ihm. Komisch: Dabei hat sie ihn doch gerade erst kennengelernt.

Fritz ist eben nur "anscheinend" der erste Mann, den Christine liebt. Der wirklich erste Mann war Christines Vater (Felix von Manteuffel): ein stattlicher Herr, der sich vordergründig rührend um seine Tochter kümmert. Einer, der ihr frischen Flieder mitbringt. Allerdings auch einer, der ihr auf irritierende Weise den allzu roten Lippenstift aus den Mundwinkeln wischt. Auch er gehört eben zu denen, die sich die Liebe in den Kopf gesetzt haben. Wie fatal das in diesem Fall der Vater-Tochter-Liebe ist, zeigt sich an Christine.

Stephan Kimmig ist mit seiner Zeichnung der Christine etwas Außergewöhnliches gelungen, er benutzt Schnitzlers Werk, um diese Figur psychologisch auszuleuchten, drängt also die anderen Figuren, bis auf den Vater, sehr in den Hintergrund. So zeigt er eine nur allzu geläufige Abart der Liebe und ihre mörderischen Folgen. Es ist die Liebe, die sich einer in den Kopf setzt. Damit ist er dem Monströsen der Liebe auf die Spur gekommen.