Die Ameisenumsiedlerin
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Christina Grätz siedelt Ameisennester um, wenn diese Siedlungen beim Autobahnbau im Weg sind oder wenn Menschen sich durch die Insekten in ihrem Garten gestört werden. Denn viele Waldameisenarten sind in Deutschland geschützt – aus gutem Grund.
Für manche ist es eine Horrorvorstellung: mit bloßen Händen in einen Ameisenhaufen zu greifen, Ameisensäure zu riechen und zu spüren, wie die Insekten auf einem herumkrabbeln. Für Christina Grätz ist das Alltag. Sie hebt ganze Ameisenstädte aus, packt sie in Papiersäcke und siedelt sie an anderer Stelle wieder an. Das ist anstrengend, manchmal trägt sie bis zu drei Tonnen Material ab und baut es wieder auf. Denn die Nester sind riesig und breiten sich unter der Erde zu wahren Megacities aus.
Krabbeltiere unter Schutz
Dabei ist Christina Grätz eigentlich Botanikerin und kam zum Ameisenumsiedeln eher durch einen Zufall. Seitdem lassen sie die Krabbeltierchen nicht mehr los. Gut 2000 Nester hat sie inzwischen umgesiedelt. Sie wird gerufen, wenn eine Autobahn gebaut wird, wo die Nester im Weg sind oder bei Privatpersonen, die sich im Garten von den Insekten gestört fühlen. Ameisen stehen auf der Roten Liste, jedenfalls einige der 110 Arten, die es allein in Deutschland gibt. Weltweit liegt die Zahl bei 13.500 Arten.
"Geschützt sind die Waldameisen in Deutschland, und das aus gutem Grund und auch schon sehr lange. Seit 1791, glaube ich, gibt es schon erste urkundliche Erwähnungen, dass Ameisennester nicht zerstört werden dürfen, weil erkannt wurde, wie wichtig die für das Ökosystem sind", sagt Grätz.
"Eine herausragende Bedeutung haben sie beim Schutz der Waldbäume. Ein großes Ameisenvolk kann zum Beispiel hunderttausende Insekten eintragen als Futter. Gerade wenn Massenvermehrungen durch Forstschädlinge drohen, Raupen, die die ganzen Bäume kahlfressen, dann verhindert das ein Waldameisenvolk. Die holen dann die Raupen, stellen ihre Ernährung, die sonst meist aus Honigtau besteht, auf diese Raupen um und beschützen die Bäume dadurch."
Parfümierte Türsteher und Spermavorräte
Ameisen gelten als fleißig, sie können das Vielfache ihres eigenen Körpergewichts tragen und haben einen gut aufgebauten Staat mit verschiedenen Berufsparten. So gibt es neben Innen- und Außendienstlern auch Türsteher an den Eingängen der Nester.
"Jedes Nest hat seinen eigenen Nestgeruch. Wenn da jetzt fremde Ameisen reinwollen, die lassen sie nicht rein, und auch Feinde, die sich im Nest einnisten und die Brut fressen wollen. Die kommen aber doch manchmal rein, weil sie so bestimmte Tricks haben. Die parfümieren sich zum Beispiel, dass sie so ähnlich riechen wie die Ameisen."
Faszinierend sind auch die Königinnen. Sie regieren nicht, sondern dienen allein der Reproduktion. Ein besonderes Spektakel: der Hochzeitsflug.
"An einem bestimmten Abend fliegen alle Männchen und Weibchen aus einer bestimmten Gegend von einer gleichen Art aus allen Nestern, die es dort gibt, gemeinsam zum Hochzeitsflug und treffen sich an bestimmten Plätzen. Das können mal Häuserfassaden sein, so offene, hochgelegene Plätze oder Waldlichtungen. Da fliegen die Tiere ineinander und die jungen Königinnen werden begattet. Das ist nur einmal in ihrem Leben, und das ist das Faszinierende: die junge Königin wird begattet und hat ein spezielles Organ, die Spermathek. In der werden die Spermien gelagert, 25 bis 30 Jahre lang. So alt kann eine Königin werden."
Die Männchen sterben nach der Begattung. Die jungen Königinnen versuchen dann, selbst ein Volk zu gründen oder in einem bestehenden aufgenommen werden. Christina Grätz erzählt viele Beispiele in ihrem Buch "Die fabelhafte Welt der Ameisen".
Eigene Entwurzelung
Was es bedeutet, umgesiedelt zu werden, hat Christina Grätz selbst erfahren. 1986 verschwand das Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Der Ort in der Niederlausitz musste dem Braunkohletageabbau weichen.
"Als ich von der Schule kam, musste ich durch das Dorf gehen, weil wir am Ende des Dorfes gewohnt haben. An dem Tag wurden aus den anderen Häusern, die schon leer gezogen waren, überall die Fenster rausgemacht. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie das auf mich als Kind gewirkt hat: Oh, hier gucken mich tote Augen an. Dieses Sterben zu sehen von dem Ort, den man geliebt hat, wo man aufgewachsen ist, das war schon ein tiefgreifender Einschnitt in meinem Leben."
Weil sie naturverbunden aufwuchs, wollte sie auch einen Beruf wählen, in dem die Natur eine zentrale Rolle spielt. Nach der Wende studierte sie Biologie an der Berliner Humboldt-Universität. Aber das Leben in der Großstadt gefiel ihr nicht: zu anonym, zu unfreundlich, zu wenig Grün. Schon nach einem Semester kehrte sie der Stadt den Rücken und pendelte. Als Umweltaktivistin lebte sie im Ökodorf Lakoma in der Niederlausitz. Heute hat sie südlich von Cottbus, in einer Gegend, die auch vom Braunkohletagebau geprägt ist, ihre Firma Nagola-Re.
"Das geht auf ein sorbisches Wort zurück: gola für Heide, Wald und nagoli auf der Weide, im Wald", erklärt sie.
"Und daraus habe ich einen zusammenhängenden deutschen Namen gemacht. Wir beschäftigen uns nur mit Naturschutz, von Ameisenumsiedlung, der Erfassung von Arten, Biotopkartierung und Biomonitoring bis hin zur Produktion von Wildpflanzensaatgut. Wir machen ganz unterschiedliche Sachen von Theorie bis Praxis."
(svs)