Christian Meier: Wir lassen uns regieren
Anlässlich seines 80. Geburtstags blickt der Althistoriker und langjährige Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Christian Meier zurück. Früher habe es größere Alternativen der Mitbestimmung in der Gesellschaft gegeben. Heute resümiert er: "Wir haben eigentlich nichts zu sagen, es wird uns auch keiner hören."
Matthias Hanselmann: Christian Meier ist einer der bedeutendsten Historiker Deutschlands und heute emeritierter Professor für Alte Geschichte an der Universität München. Bekannt wurde er auch durch die Veröffentlichung einiger populärwissenschaftlicher Bücher, zum Beispiel eine Caesar-Biografie oder das Buch "Athen - Ein Neubeginn der Weltgeschichte". Besonders intensiv hat sich Meier denn auch mit dem antiken Griechenland als Urmodell für die Demokratie befasst. Heute wird Christian Meier 80 Jahre alt, ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn zunächst gefragt, in welchem Zustand er denn eigentlich die heutige Demokratie in Deutschland sieht.
Christian Meier: Schwer zu sagen, aber ich würde sagen: Ideal ist er nicht.
Hanselmann: Warum?
Meier: Weil Demokratie ja eigentlich bedeutet, dass das Volk stärkere Mitspracherechte hat. Formal sind die gegeben, wir dürfen alle vier Jahre unsere Stimme, wie es sehr schön heißt, abgeben. Man gibt die Stimme ab, aber dann ist sie auch weg für vier Jahre, wie man die Garderobe abgibt. Und wir haben Möglichkeiten zu demonstrieren, alles mögliche andere auch. Aber die Frage ist ja, was wir damit erreichen. Und ich glaube, die Alternativen, die ja eine Entscheidung überhaupt erst interessant machen, die sind kaum mehr vorhanden. Im Grunde haben wir es nur noch damit zu tun, dass wir regiert werden und ab und zu mal darauf Einfluss nehmen können, wer uns nun regieren soll.
Hanselmann: Von welchen Alternativen sprechen Sie?
Meier: Na ja, es gab früher große Alternativen, Mitbestimmung etwa in den Betrieben, manchmal auch Verstaatlichung und anderes. Es gibt vielleicht größere Alternativen, was die demokratischen Rechte, die Ausweitung der demokratischen Rechte angeht. Wir könnten zum Beispiel darüber abstimmen, ob wir vielleicht manchmal Volksabstimmungen machen wollten, statt nur parlamentarisch uns regieren zu lassen etc. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen. Und früher gab es natürlich auch eine gewisse Gesinnung, wenn Sie denken so an die Sozialdemokratie der 60er-, 70er-, auch der 50er-Jahre, die ganz bestimmte Vorstellungen von dieser Republik hatte, sie zum Teil ja auch verwirklicht hat, und das in zum Teil scharfer Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Parteien. Geschrei gibt es noch viel und Gegensätze natürlich in diesem und jenem auch, aber wirklich Dinge, die die Leute stärker bewegen, eigentlich nicht.
Hanselmann: Sie haben kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Hitler-Diktatur begonnen zu studieren, Sie haben die Entwicklung der modernen Demokratie in Deutschland miterlebt, haben auch eben schon eine Phase angedeutet. Deshalb die Frage: Gibt es für Sie eine ganz bestimmte Phase in der Entwicklung der Bundesrepublik, in der Geschichte unserer Demokratie, in der man von einer Art demokratischem Ideal sprechen kann oder diesem nahegekommen ist?
Meier: Na ja, es gab am Anfang, ich meine, es war ja erst zögerlich. 1949 haben ja viele erst gemeint, na, wer weiß, ob das gut geht, und dann hat es diese heftigen Auseinandersetzungen um Wiederaufrüstung und dergleichen Dinge gegeben. Aber ich würde sagen, so seit den späten 50er-, frühen 60er-Jahren ist wirklich eine stärkere Beteiligung entstanden, die dann kulminiert ist am Ende der 60er-Jahre durch 1968 und anderes bis in die 70er-Jahre hinein, ja, ich würde auch noch sagen bis in die 80er. Da haben wir diese Demokratie wirklich gelebt und wohl auch einen gewissen Stolz etwa auf das Grundgesetz und anderes entwickelt. Ich würde sagen, da gab es schon eine Phase, ich meine, es sind ja alles irdische Dinge, und das ist nie vollkommen, aber eine Phase, wo es recht gut gegangen ist.
Hanselmann: Würden Sie sich denn wünschen, dass die jungen Menschen heutzutage wieder wie seinerzeit 1968 und danach sich verstärkt engagieren, auf die Straße gehen, demonstrieren und nach Alternativen suchen?
Meier: Also richtig wünschen könnte ich mir das nicht, denn das war ja auch ziemlich störend und turbulent. Aber wenn man es dosieren könnte, würde ich mir mindestens 60 Prozent davon wünschen oder 65 Prozent. Die anderen 35 würde ich dann vielleicht auslassen.
Hanselmann: Liegt es daran, dass es keine Ziele gibt, dass es keine Themen gibt, gegen die man demonstrieren kann?
Meier: Nein, es gibt vor allem nicht den Glauben, dass man was verändern kann, denn den braucht man ja. Man muss ja eine gewisse Zuversicht haben und sei es, dass sie zunächst mal aus Verzweiflung geboren wird. Am Ende der 60er-Jahre war es ja am Anfang auch nicht so klar, was man da machen könnte, aber dann, ja dann ist man eben auf die Straße gegangen, dann haben diese republikanischen Klubs sich gegründet und anderes. Also es ist dann wirklich ein starkes Interesse entstanden, das sich mit der Zeit überschlagen hat. Das sind dann die Auswüchse gewesen.
Hanselmann: Wer bestimmt denn dann die Regeln der heutigen Demokratie, wenn Sie sagen, ich habe nicht mehr das Vertrauen, etwas verändern, bewirken zu können. Woher kommt das?
Meier: Also man kann da nicht einzelne Subjekte namhaft machen, denn es gibt, glaube ich, keinen, der richtig mit der Absicht dran geht, wie erstickt man diese eventuell keimenden Gelüste von Teilen der Bürgerschaft, mitzusprechen. Aber es kommt daher, würde ich sagen, einerseits, dass die ganze Demokratie unüberblickbar geworden ist, zum Teil dadurch, dass viele Entscheidungen gar nicht in Berlin fallen, sondern in Brüssel oder anderswo, also dass wir auch gar nicht ganz genau wissen, was haben wir überhaupt noch zu sagen in unserem eigenen Land. Und dann schließlich dadurch, dass sich sozusagen die alten Grundpfeiler, die letzten Endes geschichtsphilosophischer Art waren der Demokratie, dass sich Fortschrittliche gegen Konservative, Links gegen Rechts und anderes gerichtet hat. Diese Verbindung zwischen Politikern und Anhängern unter diesen Vorzeichen, die gibt es nicht mehr. Und stattdessen gibt es viel stärker eine Gruppierung zwischen oben und unten. Die da oben machen alles Mögliche, im Grunde was sie wollen, sofern sie sich nicht gegenseitig auf die Füße treten, und wir unten müssen das ausbaden, auslöffeln. Und wir haben eigentlich nichts zu sagen, es wird uns auch keiner hören.
Hanselmann: Zu dieser Demokratie oder zu diesem Zustand, den Sie gerade beschreiben, gehört auch die Finanzwelt, die Welt des Geldes. Welche Rolle spielt die dabei Ihrer Meinung nach?
Meier: Die werden natürlich gehört, weil es Wirtschaftskapitäne sind und mächtige Leute. Aber was die für Ratschläge geben, ist ja ein bisschen infrage gestellt, wenn man guckt, was dabei am Ende jetzt herausgekommen ist. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist ja, wie weit der Staat, und das heißt ja auch der demokratisch regierte Staat, in der Lage ist, mit diesen wirtschaftlichen Verhältnissen fertig zu werden, mit dieser Wirtschaftskrise. Einstweilen zahlt er ja nur Geld oder gibt Garantien. Ob das nicht sozusagen ein Omnipotenzgehabe ist, ist mir sehr fraglich. Ich bin mir nicht sicher, wie weit man damit kommt. Auf jeden Fall häuft man ja enorme Schulden auf unsere Nachkommen auf. Und das ist für mein Empfinden auch ein wichtiger Gesichtspunkt der Demokratie, dass man um Dinge kämpft, die unseren Kindern zugute kommen sollen.
Hanselmann: Wenn Sie einmal die Krise der späten römischen Republik, die Sie ja als eine Krise ohne Alternative bezeichnet haben, mit der heutigen Weltwirtschaftskrise vergleichen, zu welchem Schluss kommen Sie? Befinden wir uns auch in einer Krise ohne Alternative?
Meier: Ja, ich glaube ja. Alternative bedeutet ja, dass sich in Verhältnissen, die nicht mehr so ganz stimmen, eine Kraft zusammenballt, die es mit diesen Verhältnissen aufnimmt, so wie das liberale Bürgertum mit dem Ancien Régime oder wie das Proletariat mit der bürgerlichen Demokratie und anderes. Und ich sehe keine Gruppe, die das heute könnte. Das wäre die Alternative, die wirklich die Probleme, die es gibt, sozusagen auf den Markt bringt und dann sich zu einer der Gruppierungen macht und gegen das bestehende, überkommene Status quo etc. angeht. Wo ist das? Wir sind lauter Einzelne, die so oder so uns zurechtzufinden suchen und letztlich ratlos dastehen.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Christian Meier, einem der bedeutendsten Historiker Deutschlands, der heute 80 Jahre alt wird. Herr Meier, 1993 haben Sie das Buch "Athen – ein Neubeginn der Weltgeschichte" geschrieben. Was können wir heute von diesem Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus lernen, nach dem, worüber wir jetzt gesprochen haben in den letzten Minuten?
Meier: Eigentlich nichts, würde ich sagen. Wir können nur eines sagen: Wenn man von Geschichte was lernt, dann ist es das, dass in Athen unter den Verhältnissen, die dann nach den Perserkriegen herrschten, also nachdem dieses kleine Athen mit ein paar anderen Griechen zusammen das Riesen-Perserreich besiegt hat, in dem Moment hat sich diese Kultur gleichsam insgesamt als notwendig erwiesen. Man hat politische Entscheidungen getroffen, man hat militärische Entscheidungen getroffen etc., aber man hat es für nötig gehalten, die Tragödie zu entwickeln. Man hat es für nötig gehalten, eine Philosophie zu entwickeln, weil man meinte, ohne einen solchen Horizont des Begreifens kann man auch nicht Politik und auch nicht Demokratie machen. Wenn Sie so wollen, ist es an dieser Stelle ein großes Lernerlebnis, was man da sieht, wie eine Bürgerschaft sich sozusagen in der gesamten Breite der Kultur mit den Problemen, die insbesondere im Politischen auftauchen, sich auseinandersetzt.
Hanselmann: Haben Sie Hoffnung, dass sich an dem von Ihnen beschriebenen Zustand der heutigen Demokratie, also mal einfach gesagt, ihr da oben, wir hier unten, die wir nichts ändern können, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird oder kann?
Meier: Glaube ich nicht. Ich glaube, man wird sich stärker darauf einstellen, immer stärker darauf einstellen. Man tut das ja längst. Man geht in seine privaten Hobbys, man fährt nach Mallorca, weiß ich, was man alles macht, um sich da zu vergnügen, soweit es geht. Und den Rest überlässt man, ja, weiß ich, eben den Politikern.
Hanselmann: Da höre ich eine gewisse Hoffnungslosigkeit leider heraus, Herr Meier. Ich habe mir eigentlich versprochen, dass ich von einem alten, weisen Herrn da ein bisschen, na ja, mehr Hoffnung mitbekomme.
Meier: Dann werde ich Ihnen noch eine Hoffnung mit auf den Weg geben. Ich glaube, wenn man in diesen Dingen eines nicht verliert, was lebenswichtig ist, nämlich die Zuversicht, dann wird man auch in vieler Hinsicht was erreichen und auch vielleicht sehr Erfreuliches. Aber ich weiß nicht, wer das tut. Und das muss man abwarten. Das muss nicht unbedingt der Demokratie zugute kommen, aber vielleicht dem Leben in Deutschland, vielleicht auch der Kultur in Deutschland. Das alles wissen wir nicht. Ich bin nicht dafür, irgendeine Flinte ins Korn zu werfen. Flinten sind dazu da, dass man sie benutzt, um zu schießen – nicht auf andere, aber ich bleibe ja im Bild. Und das kann man weiterhin. Also man muss überhaupt nicht sozusagen den Lebensmut verlieren. Aber dass man völlig irreale Hoffnungen hat, ist natürlich auch nicht günstig, sondern man soll schon so ein bisschen auf dem Teppich bleiben mit seinen Hoffnungen.
Christian Meier: Schwer zu sagen, aber ich würde sagen: Ideal ist er nicht.
Hanselmann: Warum?
Meier: Weil Demokratie ja eigentlich bedeutet, dass das Volk stärkere Mitspracherechte hat. Formal sind die gegeben, wir dürfen alle vier Jahre unsere Stimme, wie es sehr schön heißt, abgeben. Man gibt die Stimme ab, aber dann ist sie auch weg für vier Jahre, wie man die Garderobe abgibt. Und wir haben Möglichkeiten zu demonstrieren, alles mögliche andere auch. Aber die Frage ist ja, was wir damit erreichen. Und ich glaube, die Alternativen, die ja eine Entscheidung überhaupt erst interessant machen, die sind kaum mehr vorhanden. Im Grunde haben wir es nur noch damit zu tun, dass wir regiert werden und ab und zu mal darauf Einfluss nehmen können, wer uns nun regieren soll.
Hanselmann: Von welchen Alternativen sprechen Sie?
Meier: Na ja, es gab früher große Alternativen, Mitbestimmung etwa in den Betrieben, manchmal auch Verstaatlichung und anderes. Es gibt vielleicht größere Alternativen, was die demokratischen Rechte, die Ausweitung der demokratischen Rechte angeht. Wir könnten zum Beispiel darüber abstimmen, ob wir vielleicht manchmal Volksabstimmungen machen wollten, statt nur parlamentarisch uns regieren zu lassen etc. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen. Und früher gab es natürlich auch eine gewisse Gesinnung, wenn Sie denken so an die Sozialdemokratie der 60er-, 70er-, auch der 50er-Jahre, die ganz bestimmte Vorstellungen von dieser Republik hatte, sie zum Teil ja auch verwirklicht hat, und das in zum Teil scharfer Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Parteien. Geschrei gibt es noch viel und Gegensätze natürlich in diesem und jenem auch, aber wirklich Dinge, die die Leute stärker bewegen, eigentlich nicht.
Hanselmann: Sie haben kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Hitler-Diktatur begonnen zu studieren, Sie haben die Entwicklung der modernen Demokratie in Deutschland miterlebt, haben auch eben schon eine Phase angedeutet. Deshalb die Frage: Gibt es für Sie eine ganz bestimmte Phase in der Entwicklung der Bundesrepublik, in der Geschichte unserer Demokratie, in der man von einer Art demokratischem Ideal sprechen kann oder diesem nahegekommen ist?
Meier: Na ja, es gab am Anfang, ich meine, es war ja erst zögerlich. 1949 haben ja viele erst gemeint, na, wer weiß, ob das gut geht, und dann hat es diese heftigen Auseinandersetzungen um Wiederaufrüstung und dergleichen Dinge gegeben. Aber ich würde sagen, so seit den späten 50er-, frühen 60er-Jahren ist wirklich eine stärkere Beteiligung entstanden, die dann kulminiert ist am Ende der 60er-Jahre durch 1968 und anderes bis in die 70er-Jahre hinein, ja, ich würde auch noch sagen bis in die 80er. Da haben wir diese Demokratie wirklich gelebt und wohl auch einen gewissen Stolz etwa auf das Grundgesetz und anderes entwickelt. Ich würde sagen, da gab es schon eine Phase, ich meine, es sind ja alles irdische Dinge, und das ist nie vollkommen, aber eine Phase, wo es recht gut gegangen ist.
Hanselmann: Würden Sie sich denn wünschen, dass die jungen Menschen heutzutage wieder wie seinerzeit 1968 und danach sich verstärkt engagieren, auf die Straße gehen, demonstrieren und nach Alternativen suchen?
Meier: Also richtig wünschen könnte ich mir das nicht, denn das war ja auch ziemlich störend und turbulent. Aber wenn man es dosieren könnte, würde ich mir mindestens 60 Prozent davon wünschen oder 65 Prozent. Die anderen 35 würde ich dann vielleicht auslassen.
Hanselmann: Liegt es daran, dass es keine Ziele gibt, dass es keine Themen gibt, gegen die man demonstrieren kann?
Meier: Nein, es gibt vor allem nicht den Glauben, dass man was verändern kann, denn den braucht man ja. Man muss ja eine gewisse Zuversicht haben und sei es, dass sie zunächst mal aus Verzweiflung geboren wird. Am Ende der 60er-Jahre war es ja am Anfang auch nicht so klar, was man da machen könnte, aber dann, ja dann ist man eben auf die Straße gegangen, dann haben diese republikanischen Klubs sich gegründet und anderes. Also es ist dann wirklich ein starkes Interesse entstanden, das sich mit der Zeit überschlagen hat. Das sind dann die Auswüchse gewesen.
Hanselmann: Wer bestimmt denn dann die Regeln der heutigen Demokratie, wenn Sie sagen, ich habe nicht mehr das Vertrauen, etwas verändern, bewirken zu können. Woher kommt das?
Meier: Also man kann da nicht einzelne Subjekte namhaft machen, denn es gibt, glaube ich, keinen, der richtig mit der Absicht dran geht, wie erstickt man diese eventuell keimenden Gelüste von Teilen der Bürgerschaft, mitzusprechen. Aber es kommt daher, würde ich sagen, einerseits, dass die ganze Demokratie unüberblickbar geworden ist, zum Teil dadurch, dass viele Entscheidungen gar nicht in Berlin fallen, sondern in Brüssel oder anderswo, also dass wir auch gar nicht ganz genau wissen, was haben wir überhaupt noch zu sagen in unserem eigenen Land. Und dann schließlich dadurch, dass sich sozusagen die alten Grundpfeiler, die letzten Endes geschichtsphilosophischer Art waren der Demokratie, dass sich Fortschrittliche gegen Konservative, Links gegen Rechts und anderes gerichtet hat. Diese Verbindung zwischen Politikern und Anhängern unter diesen Vorzeichen, die gibt es nicht mehr. Und stattdessen gibt es viel stärker eine Gruppierung zwischen oben und unten. Die da oben machen alles Mögliche, im Grunde was sie wollen, sofern sie sich nicht gegenseitig auf die Füße treten, und wir unten müssen das ausbaden, auslöffeln. Und wir haben eigentlich nichts zu sagen, es wird uns auch keiner hören.
Hanselmann: Zu dieser Demokratie oder zu diesem Zustand, den Sie gerade beschreiben, gehört auch die Finanzwelt, die Welt des Geldes. Welche Rolle spielt die dabei Ihrer Meinung nach?
Meier: Die werden natürlich gehört, weil es Wirtschaftskapitäne sind und mächtige Leute. Aber was die für Ratschläge geben, ist ja ein bisschen infrage gestellt, wenn man guckt, was dabei am Ende jetzt herausgekommen ist. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist ja, wie weit der Staat, und das heißt ja auch der demokratisch regierte Staat, in der Lage ist, mit diesen wirtschaftlichen Verhältnissen fertig zu werden, mit dieser Wirtschaftskrise. Einstweilen zahlt er ja nur Geld oder gibt Garantien. Ob das nicht sozusagen ein Omnipotenzgehabe ist, ist mir sehr fraglich. Ich bin mir nicht sicher, wie weit man damit kommt. Auf jeden Fall häuft man ja enorme Schulden auf unsere Nachkommen auf. Und das ist für mein Empfinden auch ein wichtiger Gesichtspunkt der Demokratie, dass man um Dinge kämpft, die unseren Kindern zugute kommen sollen.
Hanselmann: Wenn Sie einmal die Krise der späten römischen Republik, die Sie ja als eine Krise ohne Alternative bezeichnet haben, mit der heutigen Weltwirtschaftskrise vergleichen, zu welchem Schluss kommen Sie? Befinden wir uns auch in einer Krise ohne Alternative?
Meier: Ja, ich glaube ja. Alternative bedeutet ja, dass sich in Verhältnissen, die nicht mehr so ganz stimmen, eine Kraft zusammenballt, die es mit diesen Verhältnissen aufnimmt, so wie das liberale Bürgertum mit dem Ancien Régime oder wie das Proletariat mit der bürgerlichen Demokratie und anderes. Und ich sehe keine Gruppe, die das heute könnte. Das wäre die Alternative, die wirklich die Probleme, die es gibt, sozusagen auf den Markt bringt und dann sich zu einer der Gruppierungen macht und gegen das bestehende, überkommene Status quo etc. angeht. Wo ist das? Wir sind lauter Einzelne, die so oder so uns zurechtzufinden suchen und letztlich ratlos dastehen.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Christian Meier, einem der bedeutendsten Historiker Deutschlands, der heute 80 Jahre alt wird. Herr Meier, 1993 haben Sie das Buch "Athen – ein Neubeginn der Weltgeschichte" geschrieben. Was können wir heute von diesem Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus lernen, nach dem, worüber wir jetzt gesprochen haben in den letzten Minuten?
Meier: Eigentlich nichts, würde ich sagen. Wir können nur eines sagen: Wenn man von Geschichte was lernt, dann ist es das, dass in Athen unter den Verhältnissen, die dann nach den Perserkriegen herrschten, also nachdem dieses kleine Athen mit ein paar anderen Griechen zusammen das Riesen-Perserreich besiegt hat, in dem Moment hat sich diese Kultur gleichsam insgesamt als notwendig erwiesen. Man hat politische Entscheidungen getroffen, man hat militärische Entscheidungen getroffen etc., aber man hat es für nötig gehalten, die Tragödie zu entwickeln. Man hat es für nötig gehalten, eine Philosophie zu entwickeln, weil man meinte, ohne einen solchen Horizont des Begreifens kann man auch nicht Politik und auch nicht Demokratie machen. Wenn Sie so wollen, ist es an dieser Stelle ein großes Lernerlebnis, was man da sieht, wie eine Bürgerschaft sich sozusagen in der gesamten Breite der Kultur mit den Problemen, die insbesondere im Politischen auftauchen, sich auseinandersetzt.
Hanselmann: Haben Sie Hoffnung, dass sich an dem von Ihnen beschriebenen Zustand der heutigen Demokratie, also mal einfach gesagt, ihr da oben, wir hier unten, die wir nichts ändern können, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird oder kann?
Meier: Glaube ich nicht. Ich glaube, man wird sich stärker darauf einstellen, immer stärker darauf einstellen. Man tut das ja längst. Man geht in seine privaten Hobbys, man fährt nach Mallorca, weiß ich, was man alles macht, um sich da zu vergnügen, soweit es geht. Und den Rest überlässt man, ja, weiß ich, eben den Politikern.
Hanselmann: Da höre ich eine gewisse Hoffnungslosigkeit leider heraus, Herr Meier. Ich habe mir eigentlich versprochen, dass ich von einem alten, weisen Herrn da ein bisschen, na ja, mehr Hoffnung mitbekomme.
Meier: Dann werde ich Ihnen noch eine Hoffnung mit auf den Weg geben. Ich glaube, wenn man in diesen Dingen eines nicht verliert, was lebenswichtig ist, nämlich die Zuversicht, dann wird man auch in vieler Hinsicht was erreichen und auch vielleicht sehr Erfreuliches. Aber ich weiß nicht, wer das tut. Und das muss man abwarten. Das muss nicht unbedingt der Demokratie zugute kommen, aber vielleicht dem Leben in Deutschland, vielleicht auch der Kultur in Deutschland. Das alles wissen wir nicht. Ich bin nicht dafür, irgendeine Flinte ins Korn zu werfen. Flinten sind dazu da, dass man sie benutzt, um zu schießen – nicht auf andere, aber ich bleibe ja im Bild. Und das kann man weiterhin. Also man muss überhaupt nicht sozusagen den Lebensmut verlieren. Aber dass man völlig irreale Hoffnungen hat, ist natürlich auch nicht günstig, sondern man soll schon so ein bisschen auf dem Teppich bleiben mit seinen Hoffnungen.