Null Toleranz für Rassisten
21:54 Minuten
Bei dem Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch am 15. März 2019 starben 51 Menschen. Viele Überlebende der Tat eines australischen Rechtsterroristen sind nach wie vor traumatisiert. Wie geht Leben in der zweitgrößten Stadt Neuseelands heute?
Der Dönerladen von Temel Atacocugu: Er hat schon bessere Zeiten gesehen. Christchurch, Neuseelands zweitgrößte Stadt, Mittwoch am frühen Abend. Vor einem halben Jahr standen sie hier noch Schlange, die Besucher vom nahen Multiplexkino und Touristen. Für Kebab und Baklava. Doch das war, bevor der Coronavirus auch dem 45-Jährigen einen Strich durch die Rechnung machte.
Der rechte Arm tut immer noch weh
Der gebürtige Türke, den es der Liebe wegen ans andere Ende der Welt verschlagen hat, schaut hinter der gekachelten Theke hoch. Wird schon, es muss. Vorsichtig hievt der Mann mit dem Seitenscheitel ein paar Falafel in die Teigtasche. Der rechte Arm, er tut immer noch weh. Deshalb löst ihn auch gleich Kasim ab, sein Geschäftspartner.
"Er kümmert sich weiter um das Geschäft, ich kann ja immer noch nicht richtig arbeiten", sagt Temel Atacocugu. "Ab und zu schaue ich vorbei: Für eine halbe Stunde, eine Stunde, je nach dem wie ich mich fühle. Seit dem Terroranschlag letztes Jahr halte ich es kaum aus, länger an einem Ort zu bleiben. Ich bekomme sofort Platzangst. Es ist, als ob ich ersticke. Ständig habe ich Flashbacks. Ich würde alles dafür geben, wieder ein normales Leben führen zu können."
Temels normales Leben: Es endete mit einem Schlag am 15. März 2019. Sonnig sei es gewesen an diesem Freitag, erinnert er sich, während er sich hinsetzt. In der Luft habe schon ein Hauch von Herbst gelegen.
"Er zielt auf mich und schießt"
Der 45-Jährige stockt. Sein Therapeut hat ihm eingebläut: Rede! Das hilft. Doch das ist leichter gesagt als getan, wenn sich die Narben von neun Kugeln wie ein verknotetes Tau am ganzen Körper entlangziehen. Reden also. Über das, was der australische Rechtsextremist Brenton Tarrant ihm und den anderen Gläubigen in zwei Moscheen der 380.000-Einwohnerstadt angetan hat.
"Ich habe noch gedacht: Was macht denn der Polizist hier? Und dann sehe ich, wie er sein Gewehr wechselt – und auf mich zielt, schießt", erzählt Temel Atacocugu. "Ich sehe die Kugeln, wie sie mir entgegenfliegen. Mein Gesicht treffen. Alles in Zeitlupe. Glücklicherweise habe ich überlebt. Eigentlich ein Wunder, dass die erste Kugel mich nicht direkt umgebracht hat. Ich stand da wie angewurzelt. Und dann schießt er erneut. Bum, Bum, Bum. Auf meine Beine. Auf andere Leute. Ich sehe, wie sie der Reihe nach umfallen. Das alles hat sich in mein Gehirn eingebrannt wie in einem dieser Matrix-Filme."
Überlebt hat Temel, weil er sich geistesgegenwärtig unter den Leichen zweier Opfer versteckte. Die Kugeln keine lebenswichtigen Organe trafen. 51 Menschen hat der Attentäter auf dem Gewissen. Das jüngste Opfer war drei, das Älteste 77. Tagelang lag der gelernte Maler auf der Intensivstation, bangten seine neuseeländische Ex-Frau und seine zwei Teenagersöhne um sein Leben.
Temel fasst sich an den rechten, bandagierten Arm. In ein paar Tagen entscheiden die Ärzte, wann er wieder unters Messer muss. Der Arm, sein Mund: Das ist alles noch nicht richtig verheilt. Aber zumindest kann er, seitdem er im August nach Mekka pilgerte, wieder ohne Krücken laufen.
"Du wirst es nicht glauben, aber auf der Kaaba, der Pilgerfahrt, habe ich mich zum ersten Mal wieder stark gefühlt, entspannt", sagt er. "Ich hatte das Gefühl, Allah hilft mir. Der saudische König hat die Reise finanziert. Die zwei Wochen in Mekka und Medina haben mir sehr geholfen, körperlich und spirituell. Davon zehre ich immer noch. Mein Alltag ist ja nicht einfach. Jedes Mal, wenn es zu viel wird, denke ich an Mekka. Es spendet mir Trost."
"Ihn wird eine harte Strafe erwarten"
Trost spendet Temel auch das Freitagsgebet in der Al-Noor-Moschee. Heute erinnern nur noch Sicherheitskameras und ein Blumenmeer am Eingang des Gotteshauses an das, was vor gut einem Jahr hier geschah. Ansonsten: Sind alle Spuren beseitigt. Übermorgen wird Temel zum Hagley Park fahren, irgendwo parken und die paar Schritte zur Al-Noor-Moschee laufen. Um den Worten des Imams beim Gebet zu lauschen. Gamal Fouda zählt selbst zu den Überlebenden. Temel hält viel von ihm, auch wenn er seine Probleme damit hat, dass der Iman sagt, er habe dem Attentäter vergeben.
"Natürlich ist es wichtig, zu vergeben. Laut unserem Glauben wird Allah über ihn richten, beim jüngsten Gericht. Allah wird entscheiden, ob der Typ ins Paradies kommt oder nicht. Ich bin mir sicher: Ihn wird eine harte Strafe erwarten. Natürlich will ich ihm vergeben. Aber: Er muss für seine Taten büßen. Er kann doch nicht einfach so davonkommen. In islamischen Ländern wie Saudi-Arabien würde er zum Tode verurteilt. Aber wir sind ja in Neuseeland, in einem demokratischen Land. Ohne Todesstrafe. Ich bin mir sicher, er bekommt die höchste Strafe, die jemals jemand in der Geschichte Neuseelands erhalten hat."
Temel steht auf, er ist müde. Ab und zu hat er noch Panikattacken. Vor seiner Zeugenaussage war es besonders schlimm, doch inzwischen geht es, helfen die Antidepressiva. Die nächsten Tage werden nicht einfach. Er hat sich vorgenommen, zur Gedenkfeier zum ersten Jahrestag des Anschlags zu gehen, aber ganz sicher ist er sich noch nicht. Was er allerdings genau weiß, ist, dass er beim Prozessbeginn Anfang Juni in Christchurch im Zuschauerraum sitzen wird.
"Ich werde da sein, jeden Tag", kündigt er an. "Natürlich schaue ich mir das Gerichtsverfahren an. Ich will mit eigenen Augen sehen und hören, was er zu sagen hat. Ich will ihm zeigen: Wir sind nicht am Boden zerstört. Wir sind stark, nicht schwach."
Es flossen sechs Millionen Euro Spendengelder
"Ich muss zugeben", sagt Amy Carter, "mein erster Gedanke, als ich vom Terroranschlag hörte, war: Oh nein, nicht schon wieder Christchurch, wirklich? Schon wieder solch eine Tragödie? Wir sind doch eine friedliche, kleine Stadt am Ende der Welt. Weit entfernt von den Alltagssorgen und Traumata anderer Städte. Es war wirklich ein Schock."
So ganz kann es Amy Carter immer noch nicht fassen, die Leiterin der "Christchurch Foundation." Die Stiftung wurde 2017 ins Leben gerufen um den Bewohnern im Krisenfall zur Seite zu stehen und es leichter zu machen, Hilfsbedürftigen zu spenden. Die 44-Jährige, der man ihr Faible für gutes Essen anmerkt, schüttelt in ihrem Büro über den Dächern der Stadt den Kopf: Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass dieser Krisenfall so schnell eintreten würde.
Um zehn Uhr Abends am Tag des Anschlags war die Bürgermeisterin in der Leitung und wollte wissen, ob die Stiftung im Auftrag der Stadt für die Opfer Spenden sammeln und verteilen könne. Am nächsten Morgen um elf, nach einer schlaflosen Nacht, gab Amy grünes Licht.
Elf Millionen neuseeländische Dollar, umgerechnet etwas mehr als sechs Millionen Euro, hat die "Christchurch Foundation" bislang an Spendengeldern gesammelt. Sieben Millionen Dollar gingen direkt an die Opfer, zwei Millionen in den Kauf zweier Rettungswagen, der Rest floss in Bildungsmaßnahmen und Gemeinschaftsprojekte.
Vor dem Attentat waren die Erdbeben in Christchurch
Dass alles so reibungslos geklappt hat, das hat auch mit Christchurchs "Ur-Katastrophe" zu tun, wie Amy das nennt: Den zwei Erdbeben von 2010 und 2011, die 185 Menschen das Leben gekostet haben.
"Ich denke, es hat uns in vielerlei Hinsicht geholfen, dass wir uns daran erinnert haben, wie wir die Erdbeben von 2010 und 2011 gemeistert haben", sagt sie. "Wir haben uns ins Gedächtnis gerufen, was in solchen Krisen wichtig ist. Deshalb haben die Leute in Christchurch auch so fantastisch reagiert. Wichtig ist, was uns verbindet, nicht das Trennende. Dieses Gefühl, wir sind eine Gemeinschaft, wir stehen das gemeinsam durch. Eine Lektion der Erdbeben war, je mehr Entscheidungen du den Betroffenen abnimmst, desto größer das Trauma. Es kann noch so gut gemeint sein, aber das ist kontraproduktiv. Die Leute müssen selbst über ihr Schicksal entscheiden können. Deshalb war es mir auch so wichtig, die Überlebenden des Terroranschlags und die Angehörigen der Opfer bei allem einzubeziehen. Das war mit das Erste, was ich den Mitgliedern der muslimischen Gemeinschaft am Dienstag nach der Schießerei versprochen habe."
Nervös rutscht Amy auf ihrem Stuhl hin und her. Eigentlich müsste Raf Manji längst da sein, der unabhängige Berater der Stiftung und Hauptansprechpartner der Terroropfer. Sie schaut kurz auf ihr Handy: keine Nachricht. Ohne Raf, meint sie, wäre sie in den letzten zwölf Monaten aufgeschmissen gewesen.
Pfefferminztee zum Stressabbau, das hat immer noch geholfen. Amy schaut durch die Glastür den Flur entlang. Der schlaksige Typ mit dem sorgfältig gestutzten Vollbart, das dürfte er sein. Keine fünf Sekunden später steht Raf auch schon in der Tür. Noch ganz aus der Puste.
"Allein auf dem Weg von zu Hause hierher hatte ich drei Telefonanrufe. So geht es rund um die Uhr", erzählt er. "Der erste Anruf war wegen eines Grabsteins. Der zweite Anrufer wollte wissen, was er tun muss, um Geld vom Staat zu erhalten. Und beim letzten Anruf braucht ein Opfer Hilfe bei der Suche nach Arbeit. Ich habe deshalb schon beim Jobcenter angerufen, das ist sehr wichtig: Zu schauen, dass die Leute wieder arbeiten können."
Die bürokratischen Hindernisse nach der Tat
Wenn man so will, ist der Sohn eines Inders und einer Irin, der schon eine halbe Ewigkeit in Christchurch lebt, so etwas wie ein Mittelsmann: Zwischen der Stiftung auf der eine Seite und Opfern und Angehörigen auf der anderen. Raf hört sich ihre Sorgen und Nöte an. Hilft, wo er kann.
Nicht jeder hat so viel Glück im Unglück wie Temel. Der Kebab-Besitzer besaß zum Zeitpunkt des Anschlags schon den neuseeländischen Pass, deshalb bekommt er Sozialhilfe und Versicherungsleistungen, doch das ist die Ausnahme.
"Ich betreue beispielsweise einen Schussverletzten, der gerade wieder im Krankenhaus liegt wegen einer weiteren Operation", sagt Raf Manji. "Der hat keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung, weil er zum Zeitpunkt des Anschlags noch keine zwei Jahre in Neuseeland war. Diese ganzen Visageschichten und -regeln bereiten den Opfern große Probleme. Sie wären ohne mich aufgeschmissen. Sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört und weiterhilft. Dieser Mann, er zieht von einer Notunterkunft in die nächste. Hier mal drei Monate, da vier, so kommt er nie auf die Beine. Hinzu kommt, manchmal weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Eine Behörde sagt: 'Ja, das haben wir bewilligt.' Und dann gehst du zur nächsten und hörst: 'Oh nein, das entspricht nicht der Regel'."
In Christchurch hat sich Raf Manji, dem man seine 53 Jahre nicht ansieht, einen Namen gemacht: Als jemand, der sich nicht so schnell abwimmeln lässt, und Vollblutpolitiker. Bis vor einem Jahr saß er im Stadtrat, als Finanz-Dezernent. Doch irgendwann hatte er genug vom Politikbetrieb, den Sitzungen bis tief in die Nacht, wollte er kürzertreten. Eigentlich.
"Ich habe in den 90ern mit Aktien gehandelt, elf Jahre lang in London", erzählt er. "Was ich sagen will: Ich bin extremen Stress gewöhnt, doch ich muss zugeben, der emotionale Aspekt meines Jobs jetzt fordert mich noch einmal ganz anders heraus. Es gab Phasen, wo ich dachte, hört das nie auf, diese Anrufe. Ich halte das nicht mehr aus. Jeder hat ein anderes Anliegen. Und – wie soll ich das jetzt ausdrücken –nicht jeder findet, dass er die Hilfe bekommt, die ihm zusteht. Wobei ich schon sagen muss, dass die allermeisten Opfer mit unserer Arbeit sehr zufrieden sind. Aber es gibt ein paar Unzufriedene, die aggressiv reagieren. Das kann ziemlich unangenehm werden."
Wenn ein Syrer in Christchurch verwundet wird
Raf will zur Gedenkfeier am Sonntag gehen. Er nickt. Das ist er den Opfern schuldig. Es soll ein "Low Key Event" werden, wie die Neuseeländer das nennen: Eine Veranstaltung ohne großes Brimborium, auch wenn Premierministerin Jacinda Ardern aus der Hauptstadt Wellington anreist.
Raf soll es nur recht sein, schließlich geht das Leben weiter – irgendwie: "Ja, die Leute sind wieder zur Normalität übergegangen. Doch das ist für die Betroffenen keine Option, für die ist nichts mehr normal. Opfer solcher Gewalttaten reagieren ganz unterschiedlich. Manche erholen sich schnell, andere ihr Leben lang nicht. Wenn du dir die Betroffenen anschaust: Viele stammen aus Kriegs- und Konfliktgebieten. Ich betreue einen tollen Typen, ein Schussopfer, er stammt aus Syrien. Schon verrückt, da kommt er nach Christchurch, in Sicherheit – und was passiert: Er wird verwundet. Da fragst du dich schon, was bitte schön soll das? Solch ein Irrsinn. Doch ihm selbst ist Terror nicht fremd. Er hat schlimme Sachen in Syrien durchgemacht. Ohne zynisch wirken zu wollen: Aber für ihn ist das nichts Neues. Doch wir in Christchurch oder Neuseeland sind so etwas einfach nicht gewöhnt."
Mit existentiellen Krisen kennt sich auch Ryan Reynolds aus. Der gebürtige US-Amerikaner ist ein "Gap Filler", ein Lückenbüßer. "Gap Filler", so heißt seine NGO, aus gutem Grund: Denn wenn es eines gibt, im Stadtbild Christchurchs, dann Lücken. Drei von vier Gebäuden des Geschäftsviertels haben die zwei Erdbeben nicht überstanden. Es ist Dienstagnachmittag und die Aufträge, sie stapeln sich nur so in Ryans Headquarter, einer windschiefen Hütte, in die keine vier Leute passen. Ganz schön stressig, doch dem 41-Jährigen mit der Helmut-Schmidt-Kappe macht das nichts aus. Das sei "positiver Stress", erklärt er, kein negativer. Wie am 15. März letzten Jahres.
"Der 15. März, die Terroranschläge", erinnert er sich. "Viele Leute haben in den Tagen und Wochen danach gesagt, sie fühlten sich retraumatisiert, nicht traumatisiert, retraumatisiert. Es war wie nach den Erdbeben, das gleiche Gefühl. Keine Ahnung, du willst dir einen Tee machen, läufst in die Küche und plötzlich fragst du dich: Warum stehe ich eigentlich in der Küche? Ich weiß noch: Nach dem großen Erdbeben 2011 sollte ich eigentlich nach Wellington fliegen. Ich war damals im Auswahlkomitee des neuseeländischen Filmfestivals. Und meine Partnerin und ich haben uns den Kopf zerbrochen und gefragt: Soll ich jetzt reisen oder nicht? Es hat drei Tage gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte, doch zu fliegen. In solchen Krisensituationen hörst du auf, normal zu funktionieren. Genau so war es eine Zeitlang nach dem Terroranschlag vom 15. März."
Die Menschen auf andere Gedanken bringen
Geholfen hat Ryan in den Tagen und Wochen danach hauptsächlich eines: seine Arbeit. 105 Projekte haben die Lückenbüßer in den letzten zehn Jahren auf die Beine gestellt. Immer zeitlich begrenzt, immer auf Brachflächen. Freiluftkinos waren darunter, bei denen die Zuschauer auf klapprigen Rädern den Strom für den Projektor selbst erzeugten. Riesen knallrote Schaukeln, Hindernisparcours für Mountain-Biker in Schlangenlinien, die so aussehen, als ob die Erde wieder bebt. An Ideen mangelt es Ryan und Co. nicht.
"Du reagierst auf so etwas Absurdes wie ein Erdbeben mit Absurdität", sagt er. "In dem du beispielsweise eine öffentliche Tanzfläche aufmachst, auf dem brachliegenden Grundstück eines zerstörten Hochhauses und es den 'Dance-O-Mat' nennst. Die Leute werfen zwei Dollar in die Jukebox und schon können sie zur Musik tanzen. Da ist es: Wir haben dieses Projekt vor acht Jahren gestartet. Anfangs dachten wir. ok, ein halbes Jahr, dann war’s das. Doch das Gute an vielen unseren Projekten ist, dass du sie ohne weiteres woanders wieder aufbauen kannst. Diese Location ist schon die vierte unseres Dance-O-Mats."
Luftlinie sind es keine zwei Kilometer vom "Dance-O-Mat" bis zum Rathaus von Christchurch, einem brutalistischen Kasten mit psychedelischen Wandmalereien. Und gut möglich, dass die Frau, die hier das Sagen hat, auch schon zwei Dollar in die Jukebox geworfen hat. Zuzutrauen wäre das Lianne Dalziel. Beim "Dance-O-Mat" war Lianne tatsächlich schon einmal.
Die Bürgermeisterin bricht in schallendes Gelächter aus. Ist aber schon eine Weile her. Es sind hektische Tage für die 59 Jahre alte Sozialdemokratin. Gerade hat der Stadtrat den Haushalt für das kommende Jahr verabschiedet. Es ging um neue Straßen, den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und die Frage, warum Christchurch und der umliegenden Bezirk Canterbury aus dem großen 7-Milliarden-Dollar-Infrastrukturtopf, den ihre Parteifreundin, Premierministerin Ardern gerade aufgetischt hat, nur mickrige 159 Millionen Dollar abbekommen haben.
Wieder den richtigen Ton finden
"Business as usual": Die Frau mit den blonden Strähnchen und funkelnden blauen Augen nimmt das gerade nur am Rande wahr, sie hat andere Sorgen. Die Gedenkfeier in ein paar Tagen, natürlich, was sonst. Dalziel wird eine Rede halten, eine kurze, und hoffen, dass sie wieder den richtigen Ton findet. Wie damals, nach dem Anschlag.
"Dieser Satz, wir sind eins, das war auch das Motto unserer Gedenkfeier", sagt sie. "Kotatu Tatu, so heißt es in der Sprache der Maori: Wir sind eins. Wir stehen das gemeinsam durch. Das bedeutet nicht, dass wir alle gleich sind, wir respektieren unsere Unterschiede. Doch dieser Satz verdeutlicht: Wir sind eine Stadt."
Dalziel hat sich in die Sitzecke des Besprechungszimmers gesetzt. Sie war hier häufiger in den Tagen nach den Anschlägen. Hat rausgeguckt, um auf andere Gedanken zu kommen. Bei gutem Wetter kann man die schneebedecken Gipfel der südlichen Alpen sehen.
In Christchurch hat die Politikerin, die in den Nullerjahren unter der alten Labour-Regierung von Helen Clark Einwanderungs- und Handelsministerin war, viel Anerkennung erhalten für ihre besonnene Reaktion. Die muslimische Gemeinde, die Opfer, selbst die Opposition, alle waren voll des Lobs. Dalziel hebt die Hände, ihr ist das unangenehm.
Viel lieber verweist sie auf die Frau, die nach dem erstem Terroranschlag in der Geschichte Neuseelands bei ihrer Rede im Parlament Sätze auf Arabisch sprach und aus Solidarität mit den Opfern beim Moscheebesuch ein Kopftuch trug: Jacinda Ardern.
"Ich denke, ihre Rolle war extrem wichtig", sagt Lianne Dalziel. "Die Premierministerin hat intuitiv und instinktiv richtig reagiert. Jacinda Ardern war nicht nur empathisch, sie hat die Sachen auch beim Namen genannt. Sie hat gleich gesagt: Das war ein Terroranschlag, der uns alle trifft. Sie hat von Anfang an von Liebe und Einheit gesprochen und so das Narrativ des Attentäters zerstört. Er wollte ja durch seine Tat unser Land spalten und Leute dazu bringen, ähnliche Hasstaten zu begehen."
"Christchurch ist eine sichere Stadt""
Ardern hat nicht nur die richtigen Worte gefunden, sie hat ihren Worten auch Taten folgen lassen. Mit als erstes verschärfte die Premierministerin die Waffengesetze und veranlasste Polizeiminister Stuart Nash, ein Programm aufzulegen, dass es den knapp fünf Millionen Neuseeländern ermöglicht, ihre illegal erworbenen Waffen zurückzugeben. 168 Millionen neuseeländische Dollar, rund 95 Millionen Euro, lässt sich der neuseeländische Staat die Rückkaufaktion kosten.
Die 39-Jährige hat Zeichen gesetzt, indem sie sich schwor, nie den Namen des Attentäters in den Mund zu nehmen. Um ihm nicht die Genugtuung zu geben, dass alle Welt über ihn redet.
Dalziel hält es genauso: "Ach, ich will mir gar nicht den Kopf zerbrechen über ihn und seine Beweggründe. Aber es scheint mir, er wollte damit belegen, dass du dich nirgendwo auf der Welt sicher fühlen kannst, dass es dich überall treffen kann. Ich lehne das ab. Christchurch ist eine sichere Stadt, Neuseeland ein sicheres Land."
Die Bürgermeisterin steht auf, der nächste Termin, sie muss los. In den letzten Tagen hat die Polizei ihre Streifen vor den beiden Moscheen verstärkt, nicht ohne Grund. Letzte Woche verhaftete sie einen 19-Jährigen in seinem Haus, er hatte in den sozialen Medien ein Bild von Gläubigen vor der Al-Noor-Moschee veröffentlicht, versehen mit einer Drohung.
Natürlich hat auch Dalziel von der Geschichte gehört, genau wie von dem verhafteten neuseeländischen Soldaten, des Mitgründers des "Dominion Movement", einer identitären Gruppe, die im Dark Web – im Dunkelnetz - ihr Unwesen treibt.
"Das Dark Web verstärkt Ressentiments gegen ganz verschiedene Gruppen", sagt sie. "Nicht nur gegen Ausländer, sondern auch gegen Frauen. Ich bin fast vom Hocker gefallen, als ich gelesen habe, was im Dark Web an frauenfeindlichem Zeug steht, es ist wirklich unfassbar. Je stärker wir die Leute dafür sensibilisieren, desto besser. Es gibt da diesen großartigen Satz, ich kann mich leider gerade nicht mehr erinnern von wem. Er lautet: 'Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel.' Wir müssen Licht ins Dunkel bringen, um den Leuten zu zeigen, was da abläuft."
Der Spruch mit dem Sonnenlicht als bestem Desinfektionsmittel, er stammt von Louis Brandeis, dem US-Amerikanischen Juristen und ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Brandeis glaubte bis zu seinem Lebensende an die Kraft des Guten und der Vernunft. Der Bürgermeisterin dürfte das gefallen.