Christ und Sozialist

Von Kersten Knipp |
Der Dienst an Gott ist im Christentum immer auch ein Dienst an dem Menschen. Doch der Dienst am Nächsten kann eine erhebliche Eigendynamik entfalten und zum Zweck an sich werden. So ging es dem 1782 geborenen Priester Hugues Felicité Robert de Lamennais. Nach dem Bruch mit der römischen Amtskirche begab er sich in geistige Nähe zum Sozialismus.
Als der Priester und Philosoph Hugues Félicité Robert de Lamennais am 19. Juni 1782 in Saint-Malo geboren wird, gärt es im politischen Frankreich. Sieben Jahre ist er alt, da lösen sich die Spannungen in einer gewaltigen Eruption. Auf sie folgen unruhige Jahrzehnte: Erste Republik, das Kaiserreich, die Restauration, Juli-Monarchie und Zweites Kaiserreich, ein irrer Wechsel der politischen Ordnungen und Überzeugungen, eine Unruhe, die Skepsis und Nihilismus gedeihen lässt, ein Zweifel, der keinen Glauben gelten lässt. In scharfsinnigen Worten charakterisierte Lamennais den Geist seiner Zeit:

"Religion, Moral, Ehre, Pflichten, die heiligsten Prinzipien ebenso wie die erhabensten Gefühle gelten nur noch als Traum, strahlende und vergängliche Einbildungen. Einen Moment lang blitzen sie in einem entlegenen Winkel des Denkens auf, um dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. [...] Wahrheit und Irrtum betrachtet man mit der selben Distanz, meint, sie nicht unterscheiden zu können, und verachtet sie darum beide. Dies ist der letzte Exzess des intellektuellen Niedergangs, den wir derzeit durchleben."

Wie reagiert man auf einen solchen Fatalismus? Lamennais, 1815 zum Priester geweiht, stellt dem Skeptizismus seiner Zeit den katholischen Glauben gegenüber - einen Glauben allerdings, der im Lauf der Zeit zunehmend diesseitige Züge trägt. Immer stärker betrachtet Lamennais die Religion als soziales Ordnungsprinzip, als normgebende Instanz, ohne die Gesellschaften nicht existieren können.

"Das Ziel und die Ordnung unseres Handelns, das Recht, die Pflicht, unsere Meinungen, das Gewissen, die Sitten, alles hängt von der treibenden Kraft der Institutionen ab. Und das vornehmste Prinzip wurde durch die Religion geschaffen, oder besser: Dieses Prinzip ist mit der Religion identisch, es ist nichts anderes als die allgemeine Vorstellung von Gott, dem Universum und dem Menschen."

Religion zeigt dem Menschen seine Möglichkeiten auf Erden auf. Aber was der Mensch daraus macht, hängt ganz von ihm selber ab. Für Lamennais ist diese Einsicht Anlass, sich auf Seiten der Armen und mittellosen Arbeiter zu stellen - und das mit einer Radikalität, die ihn in direkte Nachbarschaft zum Sozialismus bringt, zu dem er sich später bekennen wird. In seiner Schrift "Vom modernen Sklaventum" aus dem Jahr 1839 heißt es.

"Was ist der Arbeiter heute in den Augen des Kapitalisten? Ein Arbeitsinstrument. Zwar ist er dank der modernen Rechtsprechung frei und kein verkäufliches Eigentum mehr. Aber diese Freiheit ist fiktiv. Der Körper ist zwar kein Sklave, aber der Geist ist es. Wird man etwa behaupten wollen, dass derjenige frei ist, der nur die Wahl zwischen einem furchtbaren, unvermeidlichen Tod und der Annahme eines fremdbestimmten Gesetzes hat? Das moderne Sklaventum basiert auf dem Hunger."

Mit seiner entschiedenen Parteinahme fordert Lamennais die Amtskirche heraus. 1832 verurteilt Papst Gregor in einer Enzyklika die Schriften des französischen Priesters. Der legt ein Jahr später sein Amt nieder, schreibt aber weiter und ruft in seinem Werk "Das Buch des Volkes" die Arbeiter nicht nur zum Denken, sondern auch zum Handeln auf.

"Taten, Taten und nochmals Taten - oder ihr werdet auf alle Zeiten in eurem Elend schmoren."

Freiheit des Gewissens, der Presse, des Denkens und des Handelns - das sind die Werte, für die Lamennais Zeit seines Lebens eintritt. 1841, nach harscher Kritik an der Herrschaft des so genannten Bürgerkönigs Louis Philippe, wird er zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. 1848 zieht er als Vertreter der extremen Linken für kurze Zeit in die Nationalversammlung ein. Zugleich arbeitet er weiter an zahlreichen Büchern, getrieben von der Sorge, seine Lebenszeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Denn das Leben, notiert er, ist kurz, sehr kurz.

"Sage ruhig: Morgen ist auch noch ein Tag. Unmerklich gräbt die Zeit, die du vergeudest, dein Grab, und schon morgen bist du in der Ewigkeit."

Das Menschenleben: Im Angesicht der Ewigkeit ist es kaum mehr als ein Augenblick. Und doch, so sah es dieser engagierte Christ, muss man für dieses Leben kämpfen, muss man vor allem denen helfen, die sich selbst nicht helfen können. Daran in immer neuen, blendend geschriebenen Texten zu erinnern, sah Lamennais als Aufgabe seines eigenen Lebens an. Er starb am 27. Februar 1854 in Paris.